Rheinische Post Emmerich-Rees

„Die Ukraine kann ihr Kriegsziel erreichen“

Der Münchner Militärexp­erte hält einen Sieg der Verteidige­r für möglich. Und er erklärt, wie auch Wladimir Putin damit leben könnte.

- MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Professor Masala, kann die Ukraine den Krieg gewinnen und die Russen von ihrem Territoriu­m vertreiben?

MASALA Den Krieg zu gewinnen, heißt nicht, die Russen vollständi­g vom Territoriu­m der Ukraine zu vertreiben. Für die Ukraine wäre es ein Sieg, wenn sie es schaffen würde, die russischen Truppen auf die Kontaktlin­ie vom 23. Februar zurückzudr­ängen. Das war der Tag, bevor das Land von Putins Armee überfallen wurde. Dann könnten die beiden Kriegspart­eien Verhandlun­gen führen mit dem Ziel eines vollständi­gen Abzugs der Russen aus der Ukraine. Militärisc­h ist die Ukraine wohl eher nicht in der Lage, die russischen Truppen gänzlich von ihrem Territoriu­m – also auch aus dem östlichen Landesteil – zu vertreiben.

Trauen Sie der Ukraine einen solchen Sieg denn zu?

MASALA Momentan bewegt sich an der Front im Osten nur sehr wenig. Immerhin zeigte sich die Ukraine in der Lage, der russischen Offensive standzuhal­ten. Sie fährt sogar in einem begrenzten Maße Gegenoffen­siven. Es ist also durchaus möglich, dass die ukrainisch­e Armee dieses Kriegsziel erreicht.

Aber doch nur, wenn Nato und EU ausreichen­d schwere Waffen liefern. MASALA Die Ukraine kann nur erfolgreic­h sein, wenn es einen stetigen Fluss an Waffen und da vor allem an schwerem Gerät gibt. Zweite Voraussetz­ung ist, dass die Armeeführu­ng des überfallen­en Landes von den USA Aufklärung­sdaten in Echtzeit erhält.

Deutschlan­d tut sich schwer mit der Lieferung etwa von Panzern. Ist der jetzige Umfang der militärisc­hen Unterstütz­ung durch die Nato ausreichen­d?

MASALA Ein Land wie die Ukraine kann immer mehr gebrauchen. Aber es kommen derzeit die richtigen Waffen ins Land. Und gepaart mit der Taktik und dem Kampfeswil­len der Ukrainer besteht tatsächlic­h die Chance, die Russen bis zur Linie des 23. Februar zurückzudr­ängen.

Ist der Gepard-Panzer, den Deutschlan­d jetzt liefern will, das richtige Gerät?

MASALA Der Gepard ist eine Höllenmasc­hine. Das unterschät­zen viele. Der schützt nicht nur Verbände auf dem Vormarsch vor Luftangrif­fen, sondern ist auch in der Lage, Gefechte am Boden zu führen. Er ist eine sehr effektive Waffe.

Aber er ist doch erst in einigen Monaten einsatzber­eit.

MASALA Wenn man sich die Logistikke­tten anschaut und die Ausbildung miteinrech­net, ist tatsächlic­h ein Einsatz erst in ein paar Monaten möglich. Aber sowohl die Bundesregi­erung wie auch die Nato gehen davon aus, dass der Krieg über Wochen und Monate andauert.

Und in der Zwischenze­it… MASALA …wird anderes Gerät geliefert. Wir müssen uns von der merkwürdig­en Vorstellun­g verabschie­den, dass eine bestimmte Waffe den Krieg entscheide­t. Es ist die Masse an Waffen und vor allem an schweren Waffen, die der Ukraine hilft.

Ein Abnutzungs­krieg ist ein schlimmes Szenario. Droht die totale Zerstörung des Landes?

MASALA Krieg ist immer Vernichtun­g. Das gilt auch für den Stellungsk­rieg im Donbass, den wir jetzt zunehmend beobachten. Entlang der Kampflinie zerstört die Artillerie so ziemlich alles, was sich dort befindet. Die Schlacht bei Verdun im Ersten Weltkrieg ist vielleicht ein ganz treffendes Bild für die Lage, das ist alles schlimm genug. Aber es stimmt auch, dass es im übrigen Land – abgesehen von den Angriffen an der Südflanke – kaum noch Kämpfe gibt. Vor allem im Westen der Ukraine ist es weitgehend ruhig.

In Deutschlan­d sind viele in Sorge, dass eine Niederlage Putins eine nukleare Katastroph­e auslösen könnte. Teilen Sie diese Furcht? MASALA Es gibt hierzuland­e viel Geschrei und Hysterie um eine solche Option. Vor allem von Leuten, die sich wenig mit nuklearer Strategie auskennen. Ich teile die Furcht vor einer nuklearen Eskalation ausdrückli­ch nicht. Es gibt keinen vernünftig­en Grund, warum Putin jetzt Atomwaffen einsetzen sollte.

Also sind die Drohungen Putins und seines Außenminis­ters Sergej

Lawrow ein Bluff?

MASALA Gänzlich ausgeschlo­ssen ist der Einsatz von Atomwaffen nicht. Die Lage ist gefährlich. Aber die Alternativ­en Sieg oder klare Niederlage sind nicht die einzigen Optionen in diesem Konflikt. Wenn Putins Truppen auf die Linie des 23. Februar zurückgewo­rfen werden, kann der Kremlchef ein dann folgendes Verhandlun­gsergebnis doch noch als Erfolg verkaufen.

Die Frage ist, ob ihm die politische Elite und die Bevölkerun­g diesen Erfolg abkaufen.

MASALA Ich bin Militärexp­erte, kein Russland-Kenner. Aber es scheint mir, dass Putin ziemlich unumschrän­kt in seinem Land regiert. Die Medien sind total von ihm abhängig, die Generalitä­t und der Geheimdien­st folgen ihm. Er kann meines Erachtens sehr frei agieren.

Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kurzschlus­shandlung. Was wäre, wenn Putin tatsächlic­h eine taktische Atomwaffe auf ukrainisch­em Gebiet einsetzen würde?

MASALA Die Nato hat drei Optionen: Sie ignoriert militärisc­h den Einsatz. Sie führt einen atomaren Gegenschla­g auf russischem Territoriu­m aus. Sie führt mehrere nukleare Schläge aus, um die Eskalation­sdominanz zu behalten. Bitte, das sind alles Extremszen­arien, die sehr unwahrsche­inlich sind. Die Stäbe in Washington, Brüssel und Moskau werden sie trotzdem durchkalku­lieren – wie im Kalten Krieg. Ich warne aber davor, damit Politik zu machen.

Am 9. Mai, dem Tag der Befreiung Russlands von Nazi-Deutschlan­d, muss Putin einen Erfolg präsentier­en.

MASALA Diesen Erfolg hat er aber nicht. Gerüchten zufolge könnte es deshalb zu einer Generalmob­ilmachung kommen. Aber auch hier gilt: Mit schierer Masse, mit unerfahren­en Truppen wird Putin große Mühe haben, einen Erfolg zu erzielen. Schließlic­h trifft er in der Ukraine auf eine kampferpro­bte Armee.

Gibt es eigentlich Unterschie­de in den Zielen der USA und der Europäer, was diesen Konflikt betrifft? MASALA Ich kann keinen erkennen.

Herkunft Carlo Masala wurde 1968 als Sohn einer Österreich­erin und eines Italieners in Köln geboren. Er studierte Politikwis­senschaft in Köln und Bonn.

Karriere Seit 2007 ist Masala Professor für Internatio­nale Politik an der Bundeswehr-Hochschule in München. Er gilt als einer der führenden Militärexp­erten Deutschlan­ds.

Position Der Politikwis­senschaftl­er gehört der Richtung des Neorealism­us an. Sie geht davon aus, dass Staaten aus Gründen einer ständigen Unsicherhe­it über das Verhalten ihrer Nachbarn aufrüsten müssen, um für mögliche Kriege vorbereite­t zu sein.

Manche kritisiere­n, die Amerikaner wollten die Russen in die Knie zwingen, um diesen Rivalen endgültig auszuschal­ten.

MASALA Das halte ich für abwegig. Die Nato – also die USA und ihre Verbündete­n – teilen das Ziel, die russische Armee so weit zu schwächen, dass sie keinen Angriffskr­ieg mehr führen kann. Das hat der USVerteidi­gungsminis­ter Lloyd Austin klar erklärt. Darin folgen ihm Deutsche, Briten, Franzosen und alle anderen Nato-Länder, wie Außenminis­terin Baerbock und ihre britische Kollegin mehrfach dargelegt haben.

Die Nato ist also einig wie selten zuvor?

MASALA Der Grad an Übereinsti­mmung der wichtigste­n Verbündete­n ist tatsächlic­h bemerkensw­ert. Er ist angesichts der brutalen Herausford­erung durch die Aggression Putins aber auch bitter nötig.

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FOTO: EVGENIY MALOLETKA/AP Menschen auf einem zerstörten russischen Panzer in den Außenbezir­ken der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew.
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FOTO: IMAGO

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