Kaleidoskop der Gefühle
Als furioses Saisonfinale hat das Düsseldorfer Ballett am Rhein „Vier neue Temperamente“in einer fast dreistündigen Vorstellung zur Premiere gebracht.
DÜSSELDORF Kaleidoskope, so heißt es, haben meditativen Charakter: Sie verzaubern die Sinne, befreien den Geist, beflügeln die Fantasie. Eine solch bezaubernd bilderreiche Vorstellung hat die Rheinoper zur Aufführung gebracht. „Vier neue Temperamente“hat Ballettdirektor Demis Volpi die letzte Premiere dieser Spielzeit überschrieben. Mit einem Repertoire-Stück und vier Uraufführungen gleicht sie einer tänzerischen Langstrecke über fast drei Stunden, die auch dem Publikum Kondition und geistige Flexibilität abverlangt. Volpi zeigt, dass er beliebte Standards aufgreift und zugleich Neues wagt.
Wer denkt, dass „abstraktes Ballett“ohne Geschichten auskommt, der irrt. Vielmehr erzählen „Vier neue Temperamente“Kurzgeschichten. Es ist ein Konzeptabend zur antiken Lehre der menschlichen Gemütszustände mit unendlich vielen Facetten, die über ihre wiederkehrenden Bewegungsmotive zusammengebunden werden. Da sind die Ballett-Grundtechniken und ihre Verfremdung, urbane und minimale Ästhetiken, widersprüchliche Gefühle, innere Zerrissenheiten, Sozialanalysen, rollenspezische Betrachtungen und mehr.
George Balanchines „Vier Temperamente“machen den Auftakt, legen das Fundament, setzen die Themen, ein Neo-Klassiker zur sachlichen, leicht dissonanten Musik von Paul Hindemith. Es sind Bilder für Puristen. Die erste Szene: ein Paar, quasi in Trainingskleidung, vor königsblauem Hintergrund. Sie greifen sich an den Händen, beginnen einem gestreckten Bein, vom Boden leicht abgehoben, einem Dégagé. Es ist, als würde man einer Trainingsstunde beiwohnen. Dieser Kontext verzeiht keine Fehler.
Der Pas de deux beginnt mit klaren Bewegungen, grazil, leicht und doch mogeln sich da geknickte Knie, geflexte Füße, eine vorgestreckte Hüfte und eckige Arme in die Choreografie – man wird ihnen im Laufe des Abends immer wieder begegnen. Balanchine hat ein Ballett der Unartigkeiten kreiert.
Rashaen Arts vertanzt die Melancholie, eindringlich, erdgebunden, mit schwermütigen Zusammenbrüchen, seinen Platz suchend. Gustavo Carvalho verkörpert die Trägheit mit feiner Ironie, überbrückt den Widerspruch zwischen Phlegma und tänzerischer Leichtigkeit mit gespielter Geziertheit.
Die belgische Choreografin Michèle Anne de May eröffnet den Reigen der neuen Temperamente. Ihr „träger Sommer“ist in Grautöne getaucht. Es ist die Farbe des Meeres bei wolkenverhangenem Himmel; das Element Wasser ist dem Phlegma zugeordnet; man hört es rauschen; Assoziationen an Flüchtlingsboote werden wach; Stimmengewirr, ein Kind sagt, dass es Angst hat, ein Schiffshorn ertönt.
Grau gekleidet sind die Tänzer, jeder anders und doch eine graue Masse. Zwischenzeitlich stehen sie zusammen, als wären sie ein Körper: Sie wiegen und wogen, folgen dem Wellengang, auf und ab. Dann wieder sind es Einzelne, die verzweifeln, stürzen, aufspringen, ums Überleben kämpfen. Sie marschieren mit starrem Blick. Ohne Regung, wenn einer stürzt. Manchmal heben sie ihn auf, schleifen ihn mit. Es ist ein Räkeln, Wogen, Marschieren und Fallen zur heiteren Violinenmusik von Vivaldis „Jahreszeiten“. Kontraste in subtilen Grautönen für Freunde des Tanztheaters und des zeitgenössischen Tanzens.
Dreht man das Kaleidoskop weiter, kommt Farbe ins Bild und Energie: Demis Volpi, Ballettdirektor der Rheinoper, hat sich des heiteren, lebhaften Gemütszustands in „Sanguinic: con brio“angenommen – mit der rhythmischen, treibenden Musik von Jörg Widmann und Steve Reich, Pionier der Minimal Music.
Eine leichte, süßliche Musik kam für Volpi nicht infrage. Sein sanguinisches Temperament hat Tiefgang. Trommeln und Händeklatschen bestimmen das Tanzen mit viel Tempo, so ist eine lebensbejahende, laute Heiterkeit entstanden, die bisweilen ins Rastlose abdriftet. Wie ein Kugelpendel bleiben die Tänzerinnen und Tänzer in Bewegung, solistisch und in kurzen Pas de deux. Verlangsamt sich der Rhythmus, so stößt einer ihn wieder an, die Tänzer nehmen wieder Tempo auf – ein unermüdliches Schwingen.
Volpi verneigt sich vor Balanchine, indem er Grundeinstellungen des Balletts aufnimmt und bearbeitet. Da schreiben Arme, schnell wie Schmetterlingsflügel Bögen, dass die Luft flirrt, während die Füße in der klassischen fünften Position verharren. Immer wieder greifen die acht Tänzerinnen und Tänzer dieses Thema auf – bis zum furiosen Finale, das durch eine Rhythmusverschiebung wie ein vielstimmiger, getanzter Kanon aussieht.
Die lebensfrohe Gemütslage verblasst, als die Tänzer von Hélène Blackburn die scharfen Kontraste der Wutbilder heraufbeschwören. Martin Tétreault webt aus den elektronischen Beats einen rhythmischen Klangteppich, der eine aufgeheizte Atmosphäre entstehen lässt.
Clara Nougué-Cazenave steht auf der Bühne wie eine Furie. Fauchen ertönt. Ihre Hände krampfen sich zu Krallen, sie reißen die Hände über den Kopf, zitternd den Blick zum Himmel entlädt sich ihre unfassbare Wut. Wie sie sind vor allem die Frauen, die diese Wut leben. In Soli oder in Formation.
Die Tänzer rotten sich zusammen, bedrohlich, jeder für sich, geballte Energie kombiniert Ballett und Urbanes, und immer wieder diese Wut-Arme. So schwarz dieses Temperament auch ist, so sehr seine Aggression lodert wie eine Flamme, es birgt eine starke Energie. Und so ist auch diese Gemütslage nicht eindimensional, sondern schillernd.
Bis sich diese düstere Kraft entladen hat, die schwarze Wutwolke hinwegzieht und Platz macht für das letzte, leise Temperament: die Melancholie.
Der Ballettchef der Hamburger Staatsoper, John Neumeier, hat sie kreiert, und daraus ein Stück Poesie gemacht, das leicht wie ein Sehnsuchtssommertraum zu der Musik von Simon and Garfunkel und Franz Schubert dahingleitet. Julio Morel tanzt darin einfühlsam die Hauptrolle, sehnsüchtig suchend, sich erinnernd, versucht er zu greifen und festzuhalten, doch scheint „es“ihm immer wieder entwischen.
Wie durch ein Fenster erblickt man im Hintergrund einen Tisch mit einer Gemeinschaft. Eingefroren, wie die Erinnerung an eine gute alte Zeit. Morel erweckt sie zum Leben. Rashaen Arts, Simone Messmer, Orazio Di Bella, Evan L‘Hirondelle und Futuba Ishizaki – sie tanzen mit ihm, um ihn, doch sie bleiben nicht. Futaba Ishizaki schreitet vorbei, so nah und doch nicht greifbar.
Neumeier selbst ist zur Premiere gekommen, verbeugt sich vor seinen Tänzern – ein Gentleman, ein großer Star mit gutem Stil.
Die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Péter Hálasz begleiten dieses temperamentvolle Bilderrauschen musikalisch virtuos. Allen voran zwei Solistinnen: Alina Bercu brilliert am Klavier bei Balanchine und sehr einfühlsam bei Neumeier. Franziska Früh führt mit sonniger Leichtigkeit auf der Solovioline durch den „Phlegmatic Summer“.
Ein Saisonfinale, das zeigt, was die Düsseldorfer Compagnie zu tanzen vermag.