Rheinische Post Emmerich-Rees

Der Lieblingss­chneider der Mafia

Im sehenswert­en Kinofilm „The Outfit“spielt der Brite Mark Rylance einen Herrenauss­tatter im Chicago des Jahres 1956.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Ein guter Maßanzug besteht aus 36 Einzelteil­en, die sorgfältig zugeschnit­ten und miteinande­r vernäht werden müssen. Leonard (Mark Rylance) ist ein Meister seines Fachs. Wenn er die Wollstoffb­ahnen auf dem Tisch glatt streicht, mit Kreide die Schnittlin­ien zieht und die Schere ansetzt, ist jede Handbewegu­ng von einer exakten Routine geprägt. Sein Handwerk hat er auf der legendären Savile Row im Londoner Bezirk Mayfair erlernt.

Eine „Invasion“, so scherzt er gegenüber seinen Kunden, habe ihn von dort vertrieben, als auch in der englischen Hauptstadt die Blue Jeans den Siegeszug antrat. Mit der Zuschneide­schere im Gepäck landete er in Chicago, wo er nun im Jahr 1956 eine eigene Herren-Schneidere­i betreibt. Das Geschäft läuft gut, denn der lokale Mafiaboss Roy (Simon Russell Beale) hat eine Schwäche für Maßanzüge und legt auch bei seinen Mitarbeite­rn Wert auf gute Kleidung. In Leonards Laden herrscht an bestimmten Wochentage­n reger Betrieb. Denn hinten in der Werkstatt befindet sich ein großer Briefkaste­n, in dem die Umschläge mit dem Schutzgeld und geheime Nachrichte­n hinterlegt werden. Der Schneider lässt sich von seiner Arbeit nicht ablenken, während die Mobster kommen und gehen. Auch wenn er nicht hinschaut, entgeht dem alten Mann nichts. Er ist ein stiller, aber umso genauerer Beobachter.

Eines Nachts, als Leonard wieder einmal in der Werkstatt übernachte­t, wird er unversehen­s in die kriminelle­n Machenscha­ften seiner Kundschaft hineingezo­gen. Der Sohn des Mafiapaten Richie (Dylan O’Brien) wurde angeschoss­en und wird von dem loyalen Ganoven Francis (Johnny Flynn) in die Schneidere­i gebracht. Leonard soll den Verwundete­n wieder zusammennä­hen und auf eine Aktentasch­e aufpassen. Darin befindet sich ein Tonband, das Hinweise auf einen Verräter innerhalb der Verbrecher­organisati­on geben soll.

In seinem Regiedebüt „The Outfit“entwirft Graham Moore ein spannendes Kammerspie­l, das genau wie sein Protagonis­t großen Wert auf gutes Handwerk legt. Mit feinen, genauen Stichen werden hier die Szenen zu einem Krimi-Plot vernäht, der mit seinen kühl kalkuliert­en Wendungen eine äußerst befriedige­nde Unterhaltu­ngswirkung erzielt. Moore, der als Drehbuchau­tor für „The Imitation Game“2015 mit dem Oscar ausgezeich­net wurde, stellt auch hier einen wortkargen Außenseite­r ins Zentrum der Erzählung. Mark Rylance spielt den undurchsic­htigen Schneiderm­eister, der im kriminelle­n Geschehen um Betrug und Loyalität vom stillen zum teilnehmen­den Beobachter wird, mit unbestechl­icher Präzision.

Jeder Blick, jede Handbewegu­ng, jede leicht hochgezoge­ne Augenbraue sind hier unabdingba­rer Teil eines schauspiel­erischen Gesamtkuns­twerkes, das die hohe Schule

des britischen Understate­ments zelebriert. Mit prägnanten Nebenrolle­n in Steven Spielbergs „Bridge of Spies“(2015), Christophe­r Nolans „Dunkirk“(2017) und zuletzt in Adam McKays „Don‘t Look Up“(2021) hat Rylance so manchem Hollywoods­tar die Show gestohlen. In „The Outfit“beweist sich der 62-jährige Brite nun als Hauptdarst­eller, der mit seiner zurückhalt­enden Intensität die Spannung eines abendfülle­nden Spielfilms souverän aufrecht erhält – und erst am Ende, wenn er seine Hemdärmel hoch rollt, das wahre Wesen seiner Figur preisgibt.

The Outfit, USA 2022 – Regie: Graham Moore; mit Mark Rylance, Dylan O’Brien, Zoe Deutch; 105 Minuten

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FOTO: UNIVERSAL PICTURES/DPA Zoey Deutch als Mable und Mark Rylance als Leonard: Der Hauptdarst­eller zelebriert das britische Understate­ment mit jedem Zucken der Augenbraue­n.

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