Gegen das Leid der Tiere
ANALYSE Tausende Mäuse, Ratten und andere Lebewesen sterben jährlich für die Forschung und für die Entwicklung neuer Medikamente. Ist das wirklich nötig? Es gibt Methoden, die mit Ersatz auskommen. Ein Blick in die Zukunft.
Ist es gerechtfertigt, dass Tiere für den wissenschaftlichen Fortschritt leiden, gar sterben müssen? Diese Frage scheidet schon lange die Geister. Und doch muss sie in der Medizin und Forschung immer wieder gestellt werden. Denn obwohl Tierversuche zur Entwicklung von Kosmetik und Hygieneprodukten in Deutschland verboten sind, werden sie nach wie vor in der Grundlagenforschung eingesetzt. Tierschützer und Kritiker hinterfragen ihren Nutzen; regelmäßig gibt es Proteste, zuletzt am Welttierschutztag Anfang des Monats.
Eva Nimtschek vom Verein Ärzte gegen Tierversuche spricht Tierversuchen sogar jeglichen Nutzen ab, sie verhinderten den Fortschritt. „Sicher gibt es Zusammenhänge, die im Tier erforscht wurden und faktisch richtig sind“, sagt Nimtschek. „Die Frage ist aber, welche Erkenntnisse davon tatsächlich auf den Menschen übertragbar sind.“Sie verweist auf Studien, wonach weniger als ein Prozent aller Tierversuche in Bezug auf die Grundlagenforschung für den Menschen relevant ist.
Rolf Hömke, Forschungssprecher des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, sieht beim Blick in den Koffer eines Tierarztes dennoch einige Parallelen. Darin befänden sich nämlich viele Medikamente, die man aus der Humanmedizin kenne. Ergebnisse seien nicht eins zu eins übertragbar. „Aber es ist eine Möglichkeit, Menschen, die dann die endgültige Erprobung übernehmen, vor Substanzen zu schützen, die ihnen möglicherweise große gesundheitliche Probleme bereiten könnten.“
Denn im langen Entwicklungsprozess von neuen Medikamenten folgt nach einer intensiven Laborphase, in der fast ausschließlich biochemisch gearbeitet wird und potenziell gefährliche Substanzen ausgefiltert werden, ein Verträglichkeitsversuch mit Tieren. „Es wäre unverantwortlich, Substanzen, die frisch aus dem Chemielabor kommen, mit Menschen zu erproben“, sagt Hömke. Doch nicht nur das: Es ist gesetzlich vorgeschrieben, neue Medikamente in Tierversuchen auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen zu testen.
Dadurch sollen die Probanden in den anschließenden klinischen Tests geschützt werden. „Dies ist aber ein Trugschluss“, entgegnet Nimtschek. Tierversuche spiegelten eine Sicherheit vor, die nicht gegeben sei. Mehr als 90 Prozent aller Medikamente, die sich im Tierversuch als wirksam und unbedenklich erwiesen hätten, fielen an Menschen durch – weil sie keine Wirksamkeit gezeigt hätten oder hochgradige Nebenwirkungen aufgetreten seien. Penicillin wiederum wurde etwa eingeführt, bevor Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben waren. Es ist ein Zwiespalt: Natürlich möchte niemand ein Medikament schlucken, das krebserregend ist oder das Nervensystem schädigt – doch filtern Tierversuche die richtigen Medikamente aus?
Die Lösung könnten Methoden sein, die ohne Tiere auskommen, zum Beispiel sogenannte Mini-Organe oder Organoide. Das sind Abbilder echter Organe, die nur wenige Millimeter groß sind. Sie werden aus sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSZellen) gezüchtet, aus denen theoretisch sämtliche menschlichen Gewebe künstlich erzeugt werden können. Sie werden auf kleine Kunststoffchips aufgebracht, die wiederum auf Multi-Organ-Chips verbunden werden können. So lassen sich der menschliche Körper und Blutkreislauf simulieren.
Dennoch bleiben Fragen: Wie reagiert beispielsweise das Immunsystem auf Medikamente? „Wir können manchen Aspekt mit den Alternativmethoden bereits nachstellen, aber am Schluss muss man sich immer noch mal überzeugen, dass das Medikament auch ungefährlich ist, wenn es in den Gesamtorganismus gerät“, gibt Hömke zu bedenken. Auch Nimtschek sagt, Forschung am Gesamtorganismus sei die beste Voraussetzung: „Mit Tieren wird jedoch am falschen Organismus geforscht.“Und tatsächlich sind Mäuse nicht mit Menschen zu vergleichen, wenn es etwa um eine tödliche Blutvergiftung geht: Die Dosis an Bakterien, die dafür ausreicht, ist sehr viel geringer als bei Mäusen.
Nimtschek fordert angesichts der rasanten Entwicklung von tierversuchsfreien Technologien eine stärkere Förderung. Bislang werde die versuchsfreie Forschung gerade mal mit weniger als einem Prozent aller öffentlichen Forschungsfördergelder unterstützt. Hömke sagt, auch die forschenden PharmaUnternehmen seien an der Entwicklung tierversuchsfreier Methoden interessiert. Nicht nur weil sie fast immer günstiger seien, sondern auch weil die Versuche mit Tieren – auch wenn sie in einer möglichst tierschonenden Weise durchgeführt werden – niemandem gefielen. Warum also nicht neue Wege gehen, wenn ein Großteil der Krankheiten nach wie vor noch nicht erforscht ist?
Kann es also eine Zukunft ohne Tierversuche geben? Es gebe keinen Grund zu warten, sagt Nimtschek. Hömke sagt, er könne sich das in fernerer Zukunft durchaus vorstellen – allerdings ohne Garantie. Denn letztlich würden in der Humanpharmazie die Gesundheit und das Leben von Menschen noch höher als das der Tiere bewertet.
Methoden ohne Tierversuch würden dann nicht nur zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen, sondern auch die ethische Diskussion beenden, wessen Leben wertvoller ist. In der Zwischenzeit sollte die Gesundheit eines Menschen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Doch eine Zukunft ohne Tierversuche kann zur Heilung von Krankheiten beitragen, die die Forschung heute noch vor Rätsel stellen.
„Mit Tieren wird am falschen Organismus geforscht“Eva Nimtschek Verein Ärzte gegen Tierversuche