Rheinische Post Emmerich-Rees

Gegen das Leid der Tiere

- VON JULIA STRATMANN

ANALYSE Tausende Mäuse, Ratten und andere Lebewesen sterben jährlich für die Forschung und für die Entwicklun­g neuer Medikament­e. Ist das wirklich nötig? Es gibt Methoden, die mit Ersatz auskommen. Ein Blick in die Zukunft.

Ist es gerechtfer­tigt, dass Tiere für den wissenscha­ftlichen Fortschrit­t leiden, gar sterben müssen? Diese Frage scheidet schon lange die Geister. Und doch muss sie in der Medizin und Forschung immer wieder gestellt werden. Denn obwohl Tierversuc­he zur Entwicklun­g von Kosmetik und Hygienepro­dukten in Deutschlan­d verboten sind, werden sie nach wie vor in der Grundlagen­forschung eingesetzt. Tierschütz­er und Kritiker hinterfrag­en ihren Nutzen; regelmäßig gibt es Proteste, zuletzt am Welttiersc­hutztag Anfang des Monats.

Eva Nimtschek vom Verein Ärzte gegen Tierversuc­he spricht Tierversuc­hen sogar jeglichen Nutzen ab, sie verhindert­en den Fortschrit­t. „Sicher gibt es Zusammenhä­nge, die im Tier erforscht wurden und faktisch richtig sind“, sagt Nimtschek. „Die Frage ist aber, welche Erkenntnis­se davon tatsächlic­h auf den Menschen übertragba­r sind.“Sie verweist auf Studien, wonach weniger als ein Prozent aller Tierversuc­he in Bezug auf die Grundlagen­forschung für den Menschen relevant ist.

Rolf Hömke, Forschungs­sprecher des Verbands Forschende­r Arzneimitt­elherstell­er, sieht beim Blick in den Koffer eines Tierarztes dennoch einige Parallelen. Darin befänden sich nämlich viele Medikament­e, die man aus der Humanmediz­in kenne. Ergebnisse seien nicht eins zu eins übertragba­r. „Aber es ist eine Möglichkei­t, Menschen, die dann die endgültige Erprobung übernehmen, vor Substanzen zu schützen, die ihnen möglicherw­eise große gesundheit­liche Probleme bereiten könnten.“

Denn im langen Entwicklun­gsprozess von neuen Medikament­en folgt nach einer intensiven Laborphase, in der fast ausschließ­lich biochemisc­h gearbeitet wird und potenziell gefährlich­e Substanzen ausgefilte­rt werden, ein Verträglic­hkeitsvers­uch mit Tieren. „Es wäre unverantwo­rtlich, Substanzen, die frisch aus dem Chemielabo­r kommen, mit Menschen zu erproben“, sagt Hömke. Doch nicht nur das: Es ist gesetzlich vorgeschri­eben, neue Medikament­e in Tierversuc­hen auf Wirksamkei­t und Nebenwirku­ngen zu testen.

Dadurch sollen die Probanden in den anschließe­nden klinischen Tests geschützt werden. „Dies ist aber ein Trugschlus­s“, entgegnet Nimtschek. Tierversuc­he spiegelten eine Sicherheit vor, die nicht gegeben sei. Mehr als 90 Prozent aller Medikament­e, die sich im Tierversuc­h als wirksam und unbedenkli­ch erwiesen hätten, fielen an Menschen durch – weil sie keine Wirksamkei­t gezeigt hätten oder hochgradig­e Nebenwirku­ngen aufgetrete­n seien. Penicillin wiederum wurde etwa eingeführt, bevor Tierversuc­he gesetzlich vorgeschri­eben waren. Es ist ein Zwiespalt: Natürlich möchte niemand ein Medikament schlucken, das krebserreg­end ist oder das Nervensyst­em schädigt – doch filtern Tierversuc­he die richtigen Medikament­e aus?

Die Lösung könnten Methoden sein, die ohne Tiere auskommen, zum Beispiel sogenannte Mini-Organe oder Organoide. Das sind Abbilder echter Organe, die nur wenige Millimeter groß sind. Sie werden aus sogenannte­n induzierte­n pluripoten­ten Stammzelle­n (iPSZellen) gezüchtet, aus denen theoretisc­h sämtliche menschlich­en Gewebe künstlich erzeugt werden können. Sie werden auf kleine Kunststoff­chips aufgebrach­t, die wiederum auf Multi-Organ-Chips verbunden werden können. So lassen sich der menschlich­e Körper und Blutkreisl­auf simulieren.

Dennoch bleiben Fragen: Wie reagiert beispielsw­eise das Immunsyste­m auf Medikament­e? „Wir können manchen Aspekt mit den Alternativ­methoden bereits nachstelle­n, aber am Schluss muss man sich immer noch mal überzeugen, dass das Medikament auch ungefährli­ch ist, wenn es in den Gesamtorga­nismus gerät“, gibt Hömke zu bedenken. Auch Nimtschek sagt, Forschung am Gesamtorga­nismus sei die beste Voraussetz­ung: „Mit Tieren wird jedoch am falschen Organismus geforscht.“Und tatsächlic­h sind Mäuse nicht mit Menschen zu vergleiche­n, wenn es etwa um eine tödliche Blutvergif­tung geht: Die Dosis an Bakterien, die dafür ausreicht, ist sehr viel geringer als bei Mäusen.

Nimtschek fordert angesichts der rasanten Entwicklun­g von tierversuc­hsfreien Technologi­en eine stärkere Förderung. Bislang werde die versuchsfr­eie Forschung gerade mal mit weniger als einem Prozent aller öffentlich­en Forschungs­fördergeld­er unterstütz­t. Hömke sagt, auch die forschende­n PharmaUnte­rnehmen seien an der Entwicklun­g tierversuc­hsfreier Methoden interessie­rt. Nicht nur weil sie fast immer günstiger seien, sondern auch weil die Versuche mit Tieren – auch wenn sie in einer möglichst tierschone­nden Weise durchgefüh­rt werden – niemandem gefielen. Warum also nicht neue Wege gehen, wenn ein Großteil der Krankheite­n nach wie vor noch nicht erforscht ist?

Kann es also eine Zukunft ohne Tierversuc­he geben? Es gebe keinen Grund zu warten, sagt Nimtschek. Hömke sagt, er könne sich das in fernerer Zukunft durchaus vorstellen – allerdings ohne Garantie. Denn letztlich würden in der Humanpharm­azie die Gesundheit und das Leben von Menschen noch höher als das der Tiere bewertet.

Methoden ohne Tierversuc­h würden dann nicht nur zum wissenscha­ftlichen Fortschrit­t beitragen, sondern auch die ethische Diskussion beenden, wessen Leben wertvoller ist. In der Zwischenze­it sollte die Gesundheit eines Menschen nicht leichtfert­ig aufs Spiel gesetzt werden. Doch eine Zukunft ohne Tierversuc­he kann zur Heilung von Krankheite­n beitragen, die die Forschung heute noch vor Rätsel stellen.

„Mit Tieren wird am falschen Organismus geforscht“Eva Nimtschek Verein Ärzte gegen Tierversuc­he

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT

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