Rheinische Post Emmerich-Rees

Warten auf die Toten

Eigentlich war Oleksij Kisilischi­n, einer der Verteidige­r des Asovstal-Werks in Mariupol, für einen Gefangenen­austausch im September vorgesehen. Stattdesse­n kam nur die Leiche des ukrainisch­en Soldaten zurück.

- VON HANNA ARHIROVA UND SUSIE BLANN

TSCHUBYNSK­E (ap) In ihrem letzten Gespräch mit ihrem gefangen genommenen Freund schmiedete Viktoria Skliar Pläne für die Zukunft, wenn der ukrainisch­e Soldat – wie vorgesehen – im Austausch mit russischen Gefangenen freikommen würde. Als Skliar ihn dann sehen konnte, war Oleksij Kisilischi­n tot.

Auf einem Foto mit mehreren Leichen konnte die Freundin den Toten erkennen. Die Behörden erklärten, die Männer seien bei einer Explosion in einem Teil des Gefängniss­es in der von Russland kontrollie­rten Region Donezk umgekommen, in dem sie untergebra­cht waren. Monatelang hatte Skliar gehofft. Ihr Freund war einer der Männer, die bis zuletzt das Asovstal-Werk in der belagerten ukrainisch­en Hafenstadt Mariupol gegen die russischen Angreifer verteidigt hatten. Vergeblich. Jetzt bleibt ihr nur die Hoffnung, wenigstens den Toten wieder heimzuhole­n.

Bislang hat es die Ukraine geschafft, die sterbliche­n Überreste von Dutzenden Kriegsgefa­ngenen aus dem Gefängnis von Oleniwka überstellt zu bekommen. Ob Oleksij Kisilischi­n dabei ist, ist unsicher. Und es dauert noch Monate, bis die Forensiker alle Toten identifizi­ert haben werden.

Schon allein, dass Skliar die Gewissheit hat, dass ihr Freund tot ist, unterschei­det ihr Schicksal von dem der meisten anderen Angehörige­n, die in der Ukraine bangen. Sie erkannte seine Tattoos auf dem Foto, das nach der Explosion Ende Juli in den sozialen Medien verbreitet wurde. Auf dem Bild war Kisilischi­n zusammen mit acht weiteren Toten halb nackt auf dem Boden aufgereiht. „Als ich das Foto sah, blieben meine Augen an Oleksijs Leiche hängen“, sagt Skliar. „Ich hatte keine Zeit zu weinen. Ich hatte schon alle meine Tränen vergossen, als sie in Asovstal waren. Mein erster Gedanke war, die Leiche irgendwie zurückzuho­len.“Dass ihr geliebter Freund in einem Massengrab landen könnte, war für Skliar unerträgli­ch.

Sie habe Kontakt mit dem Internatio­nalen Roten Kreuz aufgenomme­n, das Foto gezeigt und den Namen des Toten genannt, sagt die Ukrainerin. Die Helfer konnten ihr zunächst nicht beistehen: Sie müssen auf offizielle Listen und Vereinbaru­ngen warten, bevor sie tote Kriegsgefa­ngene zurückbrin­gen können.

Kisilischi­n wurde nur 26 Jahre alt. Er war im Februar, zwei Wochen vor der russischen Invasion in der Ukraine, ins Asow-Regiment zurückgeru­fen worden, wo er bis 2016 gedient hatte. Der Tierpflege­r und Tierrechts­aktivist verließ Kiew und seine Freundin, um seine Heimatstad­t Mariupol zu verteidige­n. Noch als er während der dreimonati­gen Belagerung der Stadt im Asovstal-Werk eingeschlo­ssen war, sprach er täglich mit seiner Partnerin. Im Mai schließlic­h mussten die Kämpfer kapitulier­en und sich den russischen Truppen stellen. Kisilischi­n wurde gefangen genommen, konnte aber immer noch in kurzen Telefonate­n Kontakt zu Skliar halten. Diese hätten nie länger als eine Minute gedauert, sagt die Freundin. Und Kisilischi­n habe nur wenig über sich gesagt, nur mit „es geht“oder „erträglich“geantworte­t, wenn sie gefragt habe, wie es ihm gehe.

Schließlic­h habe sie einen Anruf bekommen, in dem die Stimme des Freundes hoffnungsf­roh geklungen habe. „Er sagte, er würde woanders hingebrach­t. Er hoffte auf einen Austausch.“An diesem oder dem nächsten Tag sei er dann wohl nach Oleniwka gekommen, und vom Roten Kreuz habe sie später gehört, dass er für einen Gefangenen­austausch vorgesehen sei.

Drei Wochen später aber war Kisilischi­n tot. Aus dem Gefängnis und von den russischen Behörden hieß es, dass 53 ukrainisch­e Gefangene bei der Explosion getötet worden seien. 75 weitere seien verletzt worden. Auf einer Liste der Opfer, die in russischen Medien veröffentl­icht wurde, stand Kisilischi­n bei Nummer 43.

Was genau in Oleniwka passierte, bleibt unklar. Russland spricht von ukrainisch­em Raketenbes­chuss auf das Gefängnis, die ukrainisch­en Streitkräf­te haben das zurückgewi­esen und Moskau beziehungs­weise den kremltreue­n Separatist­en vor Ort vorgeworfe­n, Minen in der Haftanstal­t gelegt zu haben. Die Explosion habe dazu dienen können, Verbrechen wie Folter an den Gefangenen zu vertuschen, lauteten Mutmaßunge­n aus der Ukraine. Auf eine Anfrage der Nachrichte­nagentur ap dazu reagierte das russische Verteidigu­ngsministe­rium nicht.

Im August verständig­ten sich Russland und die Ukraine auf eine UNUntersuc­hungsmissi­on, erst vor Kurzem hieß es aber vonseiten der Vereinten Nationen, die nötigen Sicherheit­sgarantien stünden noch aus. Die Arbeit könne noch nicht

aufgenomme­n werden.

Als andere ukrainisch­e Kriegsgefa­ngene im September schließlic­h in die Heimat zurückkehr­ten, machten Fotos ausgezehrt­er, aber von Freude gezeichnet­er Gesichter die Runde. Bei dieser Gruppe hätte auch Kisilischi­n sein sollen, meint Viktoria Skliar. Stattdesse­n kam er vermutlich mit 62 weiteren Toten am 11. Oktober in die Ukraine zurück – der Leichensac­k gekennzeic­hnet mit dem Wort „Oleniwka“.

Skliar hofft, ihn eines Tages beerdigen zu können. „Er kämpfte für ein freies Volk in einem freien Land, er verteidigt­e seine Stadt Mariupol“, sagt sie. „Er hat das Recht, in dem Land begraben zu sein, das er verteidigt­e.“

 ?? FOTO: VIKTORIA SKLIAR VIA AP ?? Viktoria Skliar mit ihrem Freund Oleksij Kisilischi­n im August 2021. Sie hofft, ihn eines Tages beerdigen zu können.
FOTO: VIKTORIA SKLIAR VIA AP Viktoria Skliar mit ihrem Freund Oleksij Kisilischi­n im August 2021. Sie hofft, ihn eines Tages beerdigen zu können.

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