Die Brandrede des Bundespräsidenten
Mit aller Deutlichkeit fordert Frank-Walter Steinmeier die Menschen im Land zu mehr Zusammenhalt und Widerstandskraft auf.
BERLIN Lange hat der Bundespräsident gezögert, musste den Zeitpunkt für diese Rede immer wieder verschieben, auch wegen der diplomatischen Streitigkeiten mit der Ukraine um seinen abgesagten KiewBesuch im April. Jetzt hatte es vor wenigen Tagen aber doch noch geklappt mit der Reise in die Ukraine, auch wenn Frank-Walter Steinmeier vor Ort zeitweise Schutz in einem Bunker suchen musste. Geprägt von diesen Eindrücken trat der Bundespräsident am Freitagvormittag ans Rednerpult im Schloss Bellevue. Für seine wichtigste Rede bislang, für Klartext in der Krise, für wachrüttelnde Worte an die Nation.
Doch der Auftritt kam nicht nur für viele Bundesbürger überraschend, die zu der Zeit bei der Arbeit waren, Einkäufe erledigten, Termine wahrnahmen und ihrem Alltag nachgingen. Er kam wohl auch für viele Politiker überraschend. Während aktuelle Bundesministerinnen und -minister fehlten, kamen zumindest einige Prominente – neben vielen Vertretern gesellschaftlicher Gruppen.
Sie konnten einen Bundespräsidenten erleben, der bemerkenswert deutliche Worte in der historischen Krise des Jahres 2022 fand. Steinmeier stimmte die Menschen in Deutschland auf eine schwierige Zukunft als Folge des Ukraine-Kriegs ein und beschwor ihren Widerstandsgeist. In der Grundsatzrede nannte er Russland indirekt das Böse und den russischen Angriff einen „Epochenbruch“, der dazu zwinge, alte Denkmuster aufzugeben, und „auch uns in Deutschland in eine andere Zeit, in eine überwunden geglaubte Unsicherheit gestürzt (hat): eine Zeit, gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausweitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa“.
Die Menschen müssten sich auf Einschränkungen einstellen. Der Staat werde jedoch denen helfen, die es nicht allein schafften. Dazu müssten Wohlhabende ihren Beitrag leisten. Steinmeier warnte auch davor, andere drängende Aufgaben jetzt zu vernachlässigen: „Die Welt ist auf dem Weg in eine Phase der Konfrontation – obwohl sie doch dringender denn je auf Kooperation angewiesen wäre. Klimawandel, Artensterben, Pandemien, Hunger und Migration – nichts davon lässt sich lösen ohne die Bereitschaft und den Willen zu internationaler Zusammenarbeit.“Er mache sich Sorgen, dass die Menschheitsaufgabe des Klimaschutzes zu sehr in den Hintergrund gerate. „Der Klimawandel macht keine Ukraine-Pause.“Denn: „Ohne den Kampf gegen den Klimawandel ist alles nichts.“
Das Staatsoberhaupt bekräftigte seinen Vorschlag einer „sozialen Pflichtzeit“, in der „Menschen – mindestens einmal in ihrem Leben – für eine gewisse Zeit sich den Sorgen ganz anderer, zuvor fremder Menschen widmen, für diese Menschen da sind“. Es sei keine Zumutung, „wenn wir die Menschen fragen, was sie für den Zusammenhalt zu tun bereit sind“. Demokratie gehe nicht ohne Zusammenhalt, und dieser müsse eingeübt werden. „Er ist das Ergebnis von Menschen, von Empathie, von Verantwortung und Nächstenliebe“. Die Idee nur abzulehnen, sei „keine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit“.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz lobte die Rede. Merz sagte unserer Redaktion: „Das war eine außerordentlich wichtige Rede zum richtigen Zeitpunkt.“Der Unionsfraktionschef im Bundestag betonte: „Der Bundespräsident kann nur appellieren, und das hat er in beeindruckender Weise getan.“Zugleich mahnte Merz politisches Handeln an. „Jetzt liegt es an der operativen Politik, die Aufgaben unseres Landes zu lösen.“
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken begrüßte Steinmeiers Appell, Lasten im Zuge der Krise stärker auf Wohlhabende umzuverteilen. „Ich danke unserem Bundespräsidenten für seine klaren Worte und den wichtigen Appell zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in diesen Krisenzeiten. Bundespräsident Steinmeier hat die Situation in Deutschland und Europa nach dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine
„Im Angesicht des Bösen reicht guter Wille nicht aus“
vollkommen zu Recht als Epochenbruch bezeichnet und mit ehrlichen Worten beschrieben, welche Konsequenzen das für unser aller Leben und unseren Wohlstand bedeutet“, sagte Esken auf Anfrage. „Er hat die Einschränkungen klar benannt, die uns zwar alle berühren, aber natürlich diejenigen besonders hart treffen, die schon ohne die kriegsbedingte Inflation nur mit Mühe über die Runden gekommen sind.“Steinmeier habe von der „Gerechtigkeit der Verteilung der Lasten“in unserem Land gesprochen und wie wichtig es gerade in der heutigen Situation ist, „dass reiche Menschen jetzt ihren Beitrag leisten, um die immensen Kosten der notwendigen Entlastungen stemmen zu können“, sagte Esken. „Bestehende Ungerechtigkeiten müssen überwunden, und neue Ungerechtigkeiten müssen vermieden werden“, so die Co-Vorsitzende der SPD.
Die Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer forderte konkrete klimapolitische Schritte und nahm dabei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in die Pflicht. „,Ohne den Kampf gegen den Klimawandel ist alles nichts‘, da hat Steinmeier recht. Nur bringen warme Worte alleine nichts, es braucht in dieser brenzligen Zeit politischen Willen“, sagte Neubauer unserer Redaktion in Anspielung auf Steinmeiers Rede. „Absurderweise aber macht Kanzler Scholz das Gegenteil von dem, was Steinmeier sagt: Der Kanzler bricht Deutschlands Klimaversprechen, wirbt für mehr weltweite fossile Expansion und Infrastruktur“, kritisierte die Aktivistin. „Wenige Tage vor der Weltklimakonferenz liegt es nun an Herrn Scholz, die Worte von Präsident Steinmeier ernst zu nehmen und tatsächlich Stärke in der Veränderung zu beweisen“, so Neubauer weiter.
„Wenn wir auf das Russland von heute schauen, dann ist kein Platz für alte Träume“
„Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt“