Die unwiderstehliche Langsamkeit des Tröpfelns
Wenn im Herbst die Früchte von den Bäumen geerntet werden, beginnt für viele Serben die Zeit einer landesweiten Tradition: das Brennen des hochprozentigen Sljivovica.
VRGUNDINAC Zufrieden grunzen die bereits gefütterten Schweine in ihrem Koben. Hell scheint die Morgensonne über die herbstlichen Obstwiesen und baufälligen oder eingefallenen Dächer des Bergdorfes Vrgundinac. „Ihr kommt genau rechtzeitig. Ich brenne gleich einen neuen Kessel“, begrüßt der 80 Jahre alte Stanimir Mitic seine Besucher in dem von ehemals 700 auf 70 Seelen geschrumpften Weiler unweit der Kleinstadt Bela Palanka.
„Unsere Zwetschgen haben am meisten Sonne“, erklärt der frühere Schlosser den weltweit einzigartigen Ruf von serbischem „Sljivovica“, dem in deutschen Breiten als Sliwowitz bekannten Pflaumenbrand. Zwei Tonnen Zwetschgen werde er in diesem Herbst zu rund 200 Litern des aromatischen Schnapses destillieren: „Ich hasse die Zwetschgenernte“, gesteht Mitic, „aber ich liebe das Rakija-Brennen.“
Tatsächlich wandern beim weltweit viertgrößten Pflaumenproduzenten Serbien nicht nur tonnenweise Zwetschgen, sondern auch Aprikosen, Birnen, Quitten und Äpfel in unzählige Kupferkessel. Während privates Schnapsbrennen in Deutschland und der Schweiz fast vollständig verboten und in Österreich nur unter entsprechenden Auflagen erlaubt ist, frönen die Serben alljährlich im Herbst ausgiebig und gerne dem hochprozentigen Lieblingsvolkssport – dem Rakija-Brennen.
Geschäftig rührt der frühere Schlosser die Zwetschgenmaische in den aufgedeckten Plastikfässern mit einem mächtigen Holzstab um. Im Gegensatz zu mitteleuropäischen Obstbränden kommt bei Mitic kein zusätzliches Wasser und meist auch kein Zucker ins Maische-Fass: „Wenn sie reif sind, sind unsere Zwetschgen ausreichend süß und saftig. Nur bei den allerersten, noch halbgrünen Zwetschgen kommt etwas Zucker ins Fass“, sagt er.
Solange die Maische Schaum schlage und die Fliegen anlocke, sei sie „nicht ausgegoren“, erläutert der Mann mit der Schiebermütze. Im Spätsommer seien einige Tage, im Herbst ein Monat nötig, bis die Maische für den Brand bereit sei. Dabei gelte die einfache Regel: „Bleiben die Fliegen weg, ist die Maische fertig.“
Sorgfältig wäscht der rüstige Senior noch einmal den aufgedeckten Kupferkessel der Destillerie aus. Mit 120 Litern Zwetschgenmaische ist der Kessel fast bis zum Rand gefüllt, als der Brennmeister umsichtig den gewölbten Kupferdeckel, den sogenannten Kapak, auf den Kazan setzt. Mit einem Teig aus Weizenund Maismehl dichtet Stanimir die Ritzen zwischen Deckel und Kessel gründlich ab. „Damit der Alkohol nicht nach draußen verdampft“, erläutert er.
Allmählich und nicht zu stark müsse man den Kessel anheizen, berichtet der weißhaarige Brennmeister, während er kleine Akazienzweige in den Ofen schiebt: „Ist das Holz zu trocken und erhitzt man den Kessel zu schnell, brennt beim ersten Brand die Maische an – und es verflüchtigt sich beim zweiten Brand zu viel Alkohol.“Langsam erhitzt, gelangt der verdampfte Alkohol über ein Kupferrohr in den Kühler, wo er erneut zu Flüssigkeit kondensiert: Aus dem Ausguß tröpfelt und rinnt das Destillat schließlich in Mitics Eimer.
In Serbien wandert der hochprozentige Obstbrand in der Regel zweimal durch den Kessel. Für den ersten Brand sitze er häufig mehr als drei, für den zweiten Brand sogar rund fünf Stunden vor seinem Kazan, berichtet der weißhaarige Herbst-Brennmeister: „Nichts geht beim Rakija-Brennen schnell, dafür benötigt man vor allem Zeit.“
Die unwiderstehliche Langsamkeit des Tröpfelns macht für Stanimir Mitic aber gerade den Reiz des Brennens aus. Wenn ihm die Nachbarn als Vorkoster Gesellschaft leisteten, sitze man gemütlich am Kessel und tausche sich über den neusten Dorftratsch aus. Brenne er allein, füttere er nebenher die Schweine, hacke ein wenig Holz – oder mache neben dem warmen Kessel ein Nickerchen.
Auf 50 bis 60 Millionen Liter pro Jahr wird die Rakija-Produktion in Serbien geschätzt – die hochprozentigen Destillate der Selbstbrenner mit eingerechnet. Während zwei Drittel der hochwertigen Obstbrände der offiziell registrierten Destillerien exportiert werden, trinken die Hobbybrenner ihren meist wesentlich stärkeren Rakija selbst, verschenken ihn – oder verscherbeln ihn unter der Hand auch für wenig Geld an private Abnehmer und heimische Wirtshäuser. In seinem Alter trinke er selbst nicht mehr so viel Rakija, bekennt Mitic, während er noch einmal eine Handvoll Walnuss-Schalen ins Feuer wirft. Doch allein die reiche Ernte und der Widerwille, die Früchte einfach verrotten zu lassen, treibe ihn im Herbst immer wieder zurück an den Kessel. Auch seine Nachbarinnen, die selbst keinen Rakija trinken, liehen sich bei ihm den Kazan aus, um für ihre Freunde einen „ausgezeichneten Mirabellenbrand“zu brennen: „Was sollen wir mit dem ganzen Obst sonst tun? Egal, wie viele Pflaumen es gibt. Jede Zwetschge kommt in den Kessel.“
„Nichts geht beim Rakija-Brennen schnell, dafür benötigt man vor allem Zeit“Stanimir Mitic Hobby-Schnapsbrenner