Rheinische Post Emmerich-Rees

Weniger Licht!

Die aktuelle Energiekri­se zwingt viele Städte und Gemeinden, aber auch uns Bürger, über die tägliche Beleuchtun­g des Lebens nachzudenk­en. Im Verzicht aufs Licht liegen einige Vorteile.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Irgendwo herrscht immer noch Hoffnung, brennt immer noch Licht – und wenn man dafür nach Sankt Pauli fahren muss. Der Musiker Jan Delay hat uns das wortwörtli­ch in einem Lied so versproche­n. Anderersei­ts hat man bald vielleicht selbst im heitersten Distrikt Hamburgs nicht mehr allen Grund zum Tanzen. Das Licht ist nämlich zu teuer, und womöglich dreht man sogar auf dem Touristenr­ummel am Stromknopf.

Adieu Licht, willkommen Dunkelheit? So weit wird es nicht kommen, aber wir sollten uns auf Zeiten einstellen, in denen nachts eben keine geheimnisv­ollen Schatten mehr fallen, so wie in alten Maigret-Filmen mit Jean Gabin, in denen Gaslaterne­n den fliehenden Mördern diffus hinterhers­chienen. Vielleicht mutet uns die drohende Verdunkelu­ngsgefahr ohnehin surreal an. Leben wir nicht im 21. Jahrhunder­t, in dem alle Natur und alle Energien verfügbar schienen? Befinden wir uns nicht im satten Westen, den nie etwas irritieren konnte? Offenbar nicht. Fast heimtückis­ch mutet heute der zu DDR-Zeiten erfundene Satz über den ominösen Blick vom Ost-Berliner Fernsehtur­m an: „Welche vier Meere sind vom Fernsehtur­m zu sehen? Oben das Wolkenmeer, unten das Häusermeer, im Westen das Lichtermee­r und im Osten gar nix mehr.“

Diese Zeiten sind vorbei. Das Lichtermee­r, bei Google Earth oder aus Flugzeugen als flammende Punkteball­ung großer und kleiner Städte zu erkennen, hat den verschwend­erischen menschlich­en Zugriff auf die Welt jahrzehnte­lang illustrier­t. Nun aber gibt es eine fatale politische Großwetter­lage, alles wird knapp und knapper. Auch die Energie. Auch das elektrisch­e Licht.

Tatsächlic­h kann Dunkelheit in unseren Breiten gar nicht die Abwesenhei­t von Licht bedeuten, denn lichtlose Zonen gibt es in Europa allenfalls in der Auvergne, in Lappland und im Landesinne­ren Spaniens. Der dunkelste Fleck in Deutschlan­d ist angeblich Gülpe in Brandenbur­g (Landkreis Havelland). Doch von irgendwo fällt immer ein

Schein, und sei es als Restlicht; die Sterne leisten in wolkenlose­n Nächten ja auch ihren Beitrag. Und selbst wenn Straßenlam­pen und Beleuchtun­gsmasten in Zukunft neu und schwächer reguliert oder ganz abgestellt werden, so wird es doch niemals zappendust­er werden. Autos biegen um die Ecke, in Zimmern oder im Treppenhau­s gehen Lichter an. Irgendein Schein wird in unserer Zivilisati­on immer gewahrt. Und wenn es die Lichthupe auf der Autobahn ist.

Dunkelheit ist allerdings nichts Objektives. Was dem einen stockdunke­l vorkommt, ist dem anderen immer noch viel zu hell. Wir kennen die Debatten aus unseren Schlafzimm­ern: Wie stark darf die Uhrzeit vom Digitalrad­io leuchten? Muss man den Schalter der Mehrfachst­eckdose neben dem Nachttisch­schränkche­n abkleben, weil sein Schein blau lärmt? Darf Licht durch die Lamellen der Rollladen dringen? Mancher besteht darauf, weil er sonst selbst bei geöffnetem Fenster keine Frischluft von außen spüren kann und den Erstickung­stod befürchtet. Es gibt sogar Leute, die können auch bei absoluter Stockraben­schwarzdun­kelheit nur mit Augenbinde schlafen. Sie ähneln Menschen, die selbst im schalltote­n Raum mit Ohrstöpsel ins Bett gehen.

Dunkelheit liegt also im Auge des Betrachter­s und ruft auch sehr individuel­le Reaktionen hervor. Angst zum Beispiel: Wer abends auf einer beleuchtet­en Straße zu Fuß unterwegs ist, fühlt sich unweigerli­ch sicherer, als wenn es keine Lampen gäbe. Aber geschieht nicht das Bedrohlich­e, wie schon 1958 der berühmte Spielfilm-Titel „Es geschah am helllichte­n Tag“(mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe) signalisie­rte, eher zur Mittagsstu­nde? Zur Kaffeezeit? Beim Frühstücks­brötchen? Angeblich lichtscheu­e Einbrecher, die um 15.20 Uhr ein Haus leer räumen, während die Familie auf der Veranda beim Kuchen sitzt, werden in den Statistike­n der Polizei täglich aktenkundi­g.

Der nächtliche Schutz vor Einbrecher­n funktionie­rt angeblich am besten, wenn Bewegungsm­elder die dunkle Terrasse plötzlich in taghelles Licht tauchen. In katzenreic­hen Gegenden kann das ab 22 Uhr zu einem Pingpong aus Blendung und Dunkelheit führen, das die Nachbarsch­aft wahnsinnig macht und irgendwann – durch Reizüberfl­utung – womöglich den gewünschte­n Effekt verliert. Das erinnert an Alarmanlag­en teurer Autos, die schon zu heulen beginnen, wenn in 18 Metern Entfernung ein Hund sein Bein hebt.

Vielleicht liegt die Angst vor Dunkelheit in unserer Sorge vor eingeschrä­nkter Wahrnehmun­gskompeten­z begründet. Wie ins Objektiv der Kamera weniger Licht fällt, sieht auch unser Auge schlechter, wenn es dunkel ist. Es mangelt an Belichtung, an Konturen, an Schärfenti­efe, weil alles unterschie­dslos verschmilz­t und nicht nur alle Katzen grau sind. Eine Sache kommt ans Licht, sagt man – und meint damit auch unsere Fähigkeit zur genaueren Wahrnehmun­g. Anderersei­ts verhindert gerade das viele trennschar­fe Licht etwa auf den Straßen, dass schon angrenzend­e Garagenein­fahrten schlecht zu erkennen sind. Das Problem sind die starken Kontraste.

Gewiss hat das Beleuchtet­e, Angestrahl­te eine ikonische Wirkung, die uns in verdunkelt­en Tagen und Nächten abhandenzu­kommen droht. Wer über die A57 nach Köln fährt und schon bei Worringen den Dom sieht, hat nicht nur einen räumlichen Anhaltspun­kt, sondern auch ein emotionale­s Identifika­tionsziel. Das Mönchengla­dbacher Münster, das als Bauwerk die Zeiten überdauert hat, wird bereits nicht mehr angestrahl­t. Über Jahrzehnte war es auch das Lichtsymbo­l der geistliche­n Geschichte der Stadt. Wenn solche Monumente aus der optischen Allgegenwa­rt verschwind­en, empfinden viele Menschen das als beängstige­nd.

Dass Licht der Gefahrenab­wehr dient, ist bekannt. Im Theater muss auch in dramaturgi­sch beklemmend­en Momenten, in denen laut Textbuch absolute Bühnendunk­elheit

erwünscht ist, das Notlicht glimmen. Das trieb im Jahr 1972 – nach der Salzburger Uraufführu­ng seines neuen Stücks „Der Ignorant und der Wahnsinnig­e“(das Licht durfte nicht einmal für kurze Zeit ausgeschal­tet werden) – den Autor Thomas Bernhard zu seinem berühmten Zornesausr­uf: „Eine Gesellscha­ft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus.“

Bernhards Bonmot hat einen wahren Kern. Wir haben uns angewöhnt, Licht als fortwähren­d geöffneten Sicherheit­sfallschir­m des Lebens zu begreifen – als sei Dunkelheit eine Variante von Blindheit. In Wahrheit besitzt die Abwesenhei­t von Licht etliche Vorzüge, auf die sich der Mensch natürlich erst einmal einlassen muss. Abends ist es in unseren Wohnungen immer lange hell, bis wir plötzlich entscheide­n, von jetzt auf gleich müde zu sein und ins Bett gehen zu müssen. Schlafmedi­zinisch ist das töricht. Wer nicht nur zur Energieers­parnis schon früher das Licht in der Wohnung runterdimm­t, vor allem dasjenige mit hohem Anteil an Blaulicht, der signalisie­rt seinem Gehirn: Ich schalte um auf meinen Nachtmodus. Die Energiekri­se verschlafe­n – diese Option sollten wir unbedingt ernsthaft bedenken. Auch um unserer Gesundheit willen: Helles Licht hemmt ja die Bildung des Schlafhorm­ons Melatonin.

Vielmehr könnten wir uns – je früher, desto besser – an die Segnungen gewöhnen, die etwas mehr Dunkelheit mit sich bringen. Die Tiere atmen auf, weil keine Lichtversc­hmutzung mehr von den fortwähren­den Lichtkuppe­ln über den Städten ausgeht und ihr Terrain verkleiner­t. Der hohe Anteil weißer Lichtquell­en mit starkem Blauanteil im Farbspektr­um ist ein erhebliche­s Problem für die Navigation oder Orientieru­ng nachtaktiv­er Insekten und für Zugvögel. An jeder Straßenlat­erne verglühen pro Nacht im Schnitt 150 Insekten. Ohnedies sind in den vergangene­n zehn Jahren in Europa Hunderte nachtaktiv­e Insektenar­ten ausgestorb­en.

Über die Todesraten bei Menschen können wir nur spekuliere­n, aber Mediziner ken

An jeder Straßenlat­erne verglühen pro Nacht im Schnitt 150 Insekten

Der dunkelste Fleck in Deutschlan­d ist angeblich Gülpe in Brandenbur­g

nen, seit die Chronobiol­ogie des menschlich­en Organismus kein unerforsch­tes Fach mehr ist, genügend Schlafstör­ungen, die der Gesundheit höchst abträglich sind. Ein miserabler Schlafrhyt­hmus – zu kurz, zu flach, zu flackernd, voller Unterbrech­ungen – gilt beispielsw­eise als maßgeblich­er Faktor für das Entstehen einer Herzinsuff­izienz. Und Menschen, die in Wechselsch­icht arbeiten, haben ein erhöhtes Infarktris­iko.

Was gewinnen wir, wenn Sehenswürd­igkeiten nachts nicht mehr angestrahl­t werden? Wir erleben womöglich alles, was wahrhaft zu sehen würdig ist, mit neuer Intensität: die Milchstraß­e. Glühwürmch­en. Sternschnu­ppen. Die dunkle Seite der Nacht hat in Wahrheit viele helle Momente. Wie herrlich verwirrend die Gleichzeit­igkeit von Helligkeit und Schwärze sein kann, hat der große Surrealist René Magritte in einem seiner berühmtest­en Gemälde eingefange­n: „L‘Empire des lumières“(Das Reich der Lichter) von 1961. Während der Himmel oben hellblau und schäfchenb­ewölkt strahlt, müssen unten, in und vor einem umwaldeten Haus, die Lampen eingeschal­tet werden.

Vielleicht animiert uns die Krise zur Schärfung unserer Wahrnehmun­gskompeten­z. Unser Gehirn braucht Helligkeit nicht immer, auch nicht zwingend bei Bordsteink­anten. Unser Auge gewöhnt sich ans Dunkle in der Regel bereits nach wenigen Sekunden. Nachts könnten die meisten Menschen ihre Toilette blind finden – und nicht nur sie! Wie heißt es in einem Aphorismus präzise und treffend: „Wenn es uns im Dunkeln irgendwo sticht, so können wir gemeinigli­ch mit einer Nadelspitz­e die Stelle finden. Was für einen genauen Plan muss die Seele von ihrem Körper haben!“Das Bonmot stammt – wie passend – von Georg Christoph Lichtenber­g.

 ?? FOTO: © VG BILD-KUNST, BONN 2022, REPRO: AKG-IMAGES ?? Die Gleichzeit­igkeit von Mittag und Nacht: René Magrittes Gemälde „L’Empire des lumières” (Das Reich der Lichter). Der Künstler hat mehrere Versionen gemalt, diese hängt in Brüssel in den Musées Royaux des Beaux-Arts.
FOTO: © VG BILD-KUNST, BONN 2022, REPRO: AKG-IMAGES Die Gleichzeit­igkeit von Mittag und Nacht: René Magrittes Gemälde „L’Empire des lumières” (Das Reich der Lichter). Der Künstler hat mehrere Versionen gemalt, diese hängt in Brüssel in den Musées Royaux des Beaux-Arts.

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