Die Geschichte der Frauen, mal etwas anders erzählt
Was hat das Fahrrad mit weiblicher Emanzipation zu tun? Was sagt ein kleiner Sack aus Baumwolle über die Not von Müttern aus? Oft sind es Details, die historische Zusammenhänge deutlich machen. In einem neuen Buch wird die Rolle der Frau anhand von Dingen
Die Tatsache, dass es neben der Frau nur drei weitere höher entwickelte Lebewesen aus der Art der Säuger gibt, die eine Menopause durchmachen, also weiterleben, obwohl sie nicht mehr fortpflanzungsfähig sind, ist ebenso wenig bekannt wie bemerkenswert. Es handelt sich um Orca-, Belugaund Narwal-Weibchen. Den Walen hat der „Oma-Effekt“trotz der immensen Vorteile, die diese äußerst seltene Besonderheit der Evolution bereithält, allerdings weniger genutzt als der Spezies Mensch.
Letztere profitierte enorm von dem Umstand, dass ältere weibliche Mitglieder einer Gruppe bei der Betreuung und Versorgung helfen und damit die Überlebenschancen der Gemeinschaft beträchtlich erhöhen können. Deshalb taucht ein ungefähr 32.000 Jahre alter menschlicher Oberschenkelknochen als erstes von 100 Objekten auf, anhand derer die Autorin Annabelle Hirsch die Geschichte der Frauen nachzuerzählen versucht.
Besagter Knochen gehörte vermutlich zum Skelett eines steinzeitlichen Jägers. Als Archäologen ihn ausgruben, wies er eine ungewöhnliche Wölbung um die Mitte auf. Der Knochen war irgendwann gebrochen, vielleicht bei einem Sturz oder einem Schlag. Für Lebewesen an Land mit seiner unerbittlichen Schwerkraft haben solche Frakturen zumeist fatale Folgen. Man verdurstet ohne Hilfe, verhungert – oder endet, was vielleicht noch grausamer ist, schließlich im Magen anderer hungriger Fleischfresser.
Nicht so unser Steinzeitjäger. Sein Bruch verheilte nicht so sauber, wie es die Medizin heute hinbekommt, doch offensichtlich nahm sich jemand seiner an, versorgte das Bein, hielt den Patienten am Leben, bis er wieder gehen, womöglich wieder jagen konnte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit rettete ihm der „Oma-Effekt“das Leben. Sein gerichteter Knochen zeugt 32.000 Jahre später davon, welche entscheidende Rolle Frauen in der Frühzeit spielten.
Es sind oftmals unterschätzte Details wie dieses, die große historische Zusammenhänge begreifbar machen. Dass die Pille die Freiheit von Frauen neu definierte, weit mehr als vieles andere wie etwa die Erfindung der Waschmaschine, ist gelernt. Daneben existieren jedoch unzählige verborgene Hinweise, mit denen sich die wichtige Rolle jener deuten lässt, die zu Unrecht als „schwaches Geschlecht“belächelt wurden – Überbleibsel einer langen Vergangenheit, die entschlüsselt, ihrer vermeintlichen Banalität beraubt und kenntnisreich in einen großen Kontext gesetzt werden wollen. Das Ergebnis ist in solchen Fällen umso überraschender, kommt es doch nicht nacherzählend daher, sondern frisch, unterhaltsam, faszinierend. Neil MacGregor hat dieses Prinzip perfektioniert, als er 2010 „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“veröffentlichte.
Annabelle Hirsch greift es nun in „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“auf. Objekte, „die mit Themen verbunden sind, die Frauen tangieren – Körper, Sex, Liebe, Arbeit, Kunst, Politik“, wie sie in ihrem Vorwort schreibt. Objekte schließlich, so die 1986 geborene Kunsthistorikerin und Journalistin, die wie ein kleiner Riss in der Wand wirken, durch den man in einen großen Raum blicken könne. Auf diese Weise öffnet Annabelle Hirsch ihren Leserinnen und Lesern ein ganzes Gebäude, dessen Zimmer keineswegs nur von Unterdrückung und Diskriminierung der Frauen erzählen, sondern vor allem davon, wie sie sich immer wieder selbstbewusst aus den ihnen zugewiesenen Kammern befreiten.
Da ist zum Beispiel eine Miniatur aus dem um 1405 fertiggestellten „Buch von der Stadt der Frauen“von Christine de Pizan, die in Frankreich lebte und unter diesem unerhörten Titel eine utopisch-urbane Gegenwelt zu der von Männern beherrschten Realität entwarf, eine Stadt, in der weder Gewalt noch Benachteiligung herrschen, sondern Frauen Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit verkörpern. Das Werk stellte die bestehende gesellschaftliche Geschlechterordnung infrage und gilt als eines der ersten feministischen Bücher der europäischen Literatur.
Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben betrifft natürlich auch die weibliche Sexualität elementar. Trotz der strengen, nur auf die Fortpflanzung ausgerichteten
Regeln, die die Moraltheologen lange Zeit für das intime Verhältnis zwischen Männern und Frauen vorschrieben, scherten sich beide gleichermaßen wenig darum, zumindest zeitweise. Vom Beginn der Neuzeit an bis ins 18. Jahrhundert herrschten immer wieder vergleichsweise lockere Sitten, wenngleich dies vor allem die oberen Schichten betraf. Männer bevorzugten statt ihrer Ehefrauen Mätressen, wodurch sich die Angetrauten keineswegs um ihre Lust bringen ließen.
Von den Alternativen zeugen nicht nur gläserne Dildos, die kunstvoll auf der venezianischen Glasbläser-Insel Murano hergestellt wurden (im Buch ist ein Exemplar aus dem 16. Jahrhundert abgebildet), sondern auch die Erfindung des Bidets (französisch für „kleines Pferd“) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es machte Frauen nicht zuletzt auch zu Vorreiterinnen für Hygiene in dieser Zeit, in der die Menschen das Wasser scheuten wie der Teufel das geweihte, weil sie der festen Überzeugung waren, durch den Kontakt mit Wasser würden Krankheiten übertragen.
Die Reinlichkeit erhöhte zugleich die sexuelle Attraktivität, zumal es in höfischen Kreisen keineswegs tabu war, wenn auch Frauen mit wechselnden Partnern ihren Spaß hatten, der nur dann aufhörte, wenn daraus uneheliche Kinder hervorgingen. So fand das niedrige ovale Becken rasche Verbreitung. Es zählt noch heute zur Ausstattung vieler französischer Hotels, während es in den puritanischen USA daraus bald wieder verbannt wurde. Noch heute wird der Witz von der Amerikanerin gern erzählt, die in Paris zum ersten Mal ein solches Teil sieht und entzückt ausruft: „Oh, this is to wash the babies in!“Woraufhin das Zimmermädchen trocken erwidert: „No, it’s to wash the babies out.“
Von ebenso selbstbewussten wie klugen Frauen erzählt die Récamière, ein bequemes Ein-Mann-Sofa oder besser gesagt: Ein-Frau-Sofa, benannt nach Juliette Récamier, die hingegossen auf diesem Möbel auf einem Gemälde um das Jahr 1800 zu sehen ist. Damals wurde die Kunst der geistreichen Konversation in den Pariser Salons gepflegt, und Madame Récamier zählte zu den letzten großen Salonnièren.
Damals wie heute lag eine enorme Spanne zwischen Glanz und Elend von Frauenschicksalen, denn zur selben Zeit schufteten Sklavinnen auf den Feldern Nordamerikas. Eine von ihnen, Sojourner Truth, hielt eine flammende Rede gegen die Ungleichbehandlung, die in dem Satz gipfelte: „Bin ich etwa keine Frau, so wie die anderen?“Ihr Statement zierte bald Münzen, die von der aufkeimenden Anti-Sklaverei-Bewegung in den Staaten in Umlauf gebracht wurden.
Zu den berührendsten Objekten dieser Sammlung gehört „Ashley’s Sack“aus fleckiger Baumwolle, 83 mal 40 Zentimeter groß, gefunden 2007 auf einem Flohmarkt in Nashville, darauf die Inschrift: „Meine Urgroßmutter Rose, Mutter von Ashley, gab ihr diesen Sack, als sie mit neun Jahren in South Carolina verkauft wurde. Darin ein Kleid, drei Handvoll Pekannüsse und ein Zopf von Roses Haar. Sie sagte, er wird immer mit Liebe gefüllt sein. Sie hat sie nie wieder gesehen. Ashley ist meine Großmutter. Ruth Middleton, 1921.“
Springen wir ins 20. Jahrhundert. Die Singer-Nähmaschine hat bereits die bisher mühselige und schlecht bezahlte Arbeit von Näherinnen revolutioniert. Selbst wenn die neuen Möglichkeiten zur Heimarbeit keinen wirklichen Luxus darstellen, so werden sie doch als Verbesserung empfunden. Unterdessen hat die Remington-Schreibmaschine einen der wenigen gesellschaftlich halbwegs anerkannten Berufe für Frauen neu geschaffen: den der Sekretärin. Auch wenn der Hersteller anfangs tönte, das Gerät sei so einfach, dass selbst Frauen es bedienen könnten, markiert das den Einstieg in die bislang rein männlich besetzte Bürowelt. Freilich sollten noch etliche Jahrzehnte vergehen, bis Frauen auf dem Chefsessel Platz nahmen.
Je stärker Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts am öffentlichen Leben teilnahmen, vermehrt etwa Verkehrsmittel benutzten, desto deutlicher schnellte die Zahl sexueller Belästigungen in die Höhe, die sie zu beklagen hatten. Doch der Schrecken, der aus solchen Übergriffen resultierte, war am Ende auch aufseiten der männlichen Verursacher.
Denn es ging das Gespenst der mörderischen Hutnadel um, gezückt von Vertreterinnen der modischen Avantgarde, die gerne mit voluminöser Kopfbedeckung unterwegs waren, gehalten von robusten, bis zu zehn Zentimeter langen Nadeln, die zuvörderst helfen sollten, stürmischem Wetter zu trotzen, die aber, so die Befürchtung, ebenso zur Abwehr ähnlich heftiger Avancen von Männern verwendet werden konnten. Tatsächlich gab es Fälle, die blutig, jedoch nicht tödlich endeten. Auf der einen Seite gelang es bedrängten Frauen, sich dadurch Respekt zu verschaffen. Auf der anderen Seite wurden mancherorts Hutnadeln gewissermaßen waffenscheinpflichtig.
Ein Alltagsgerät, dem man heute nicht mehr ansieht, dass es einst entscheidend zur Emanzipation der Frauen beigetragen hat, ist das Fahrrad. Es ermöglichte ihnen Ende des 19. Jahrhunderts einerseits, sich erstmals ohne Begleitung auf der Straße zu bewegen – allen männlichen Warnungen zum Trotz, Radfahren mache Frauen unfruchtbar oder führe zu sexueller Erregung. Andererseits revolutionierte dieses praktische Fortbewegungsmittel die Kleidung. Waren bis dato lange Röcke und beinahe ebenso lange Unterröcke schicklich, so verhedderte sich der Stoff nun allzu leicht in der Mechanik.
Fortan änderte sich der Stil. Weite Hosen, die unten zugeschnürt waren, setzten sich durch, darüber trug man einen kurzen Rock, dazu einen eng anliegenden Blazer. Erste Versuche, Damenhosen als angemessene Kleidung für Frauen zu etablieren, waren ein halbes Jahrhundert zuvor gescheitert, doch mit dem Aufkommen des Fahrrads mussten auch die Konservativen eingestehen, dass Hosen für Damen ihre Daseinsberechtigung hatten. Mehrere Städte erließen daraufhin offizielle Genehmigungen für das Hosentragen. In Saudi-Arabien ist es Frauen erst seit 2013 erlaubt, Fahrrad zu fahren, im Iran ist es ihnen bis heute verboten.
„Männer machen Geschichte“war einst das Hauptwerk des preußischen Hofhistorikers Heinrich von Treitschke überschrieben, das dieser 1879 veröffentlichte. Er irrte, was die Ausschließlichkeit seiner These betraf, wie so viele seiner Zeitgenossen. Wie zu viele unserer Zeitgenossen bis heute.
Der „Oma-Effekt“rettete vermutlich schon in der Steinzeit verletzten Jägern das Leben
Mancherorts fielen vor 100 Jahren die Hutnadeln von Frauen unter die Waffenscheinpflicht
Info Annabelle Hirsch: Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten. Klein & Aber, 416 Seiten, 32 Euro.