Rheinische Post Emmerich-Rees

Die Geschichte der Frauen, mal etwas anders erzählt

Was hat das Fahrrad mit weiblicher Emanzipati­on zu tun? Was sagt ein kleiner Sack aus Baumwolle über die Not von Müttern aus? Oft sind es Details, die historisch­e Zusammenhä­nge deutlich machen. In einem neuen Buch wird die Rolle der Frau anhand von Dingen

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die Tatsache, dass es neben der Frau nur drei weitere höher entwickelt­e Lebewesen aus der Art der Säuger gibt, die eine Menopause durchmache­n, also weiterlebe­n, obwohl sie nicht mehr fortpflanz­ungsfähig sind, ist ebenso wenig bekannt wie bemerkensw­ert. Es handelt sich um Orca-, Belugaund Narwal-Weibchen. Den Walen hat der „Oma-Effekt“trotz der immensen Vorteile, die diese äußerst seltene Besonderhe­it der Evolution bereithält, allerdings weniger genutzt als der Spezies Mensch.

Letztere profitiert­e enorm von dem Umstand, dass ältere weibliche Mitglieder einer Gruppe bei der Betreuung und Versorgung helfen und damit die Überlebens­chancen der Gemeinscha­ft beträchtli­ch erhöhen können. Deshalb taucht ein ungefähr 32.000 Jahre alter menschlich­er Oberschenk­elknochen als erstes von 100 Objekten auf, anhand derer die Autorin Annabelle Hirsch die Geschichte der Frauen nachzuerzä­hlen versucht.

Besagter Knochen gehörte vermutlich zum Skelett eines steinzeitl­ichen Jägers. Als Archäologe­n ihn ausgruben, wies er eine ungewöhnli­che Wölbung um die Mitte auf. Der Knochen war irgendwann gebrochen, vielleicht bei einem Sturz oder einem Schlag. Für Lebewesen an Land mit seiner unerbittli­chen Schwerkraf­t haben solche Frakturen zumeist fatale Folgen. Man verdurstet ohne Hilfe, verhungert – oder endet, was vielleicht noch grausamer ist, schließlic­h im Magen anderer hungriger Fleischfre­sser.

Nicht so unser Steinzeitj­äger. Sein Bruch verheilte nicht so sauber, wie es die Medizin heute hinbekommt, doch offensicht­lich nahm sich jemand seiner an, versorgte das Bein, hielt den Patienten am Leben, bis er wieder gehen, womöglich wieder jagen konnte. Mit einiger Wahrschein­lichkeit rettete ihm der „Oma-Effekt“das Leben. Sein gerichtete­r Knochen zeugt 32.000 Jahre später davon, welche entscheide­nde Rolle Frauen in der Frühzeit spielten.

Es sind oftmals unterschät­zte Details wie dieses, die große historisch­e Zusammenhä­nge begreifbar machen. Dass die Pille die Freiheit von Frauen neu definierte, weit mehr als vieles andere wie etwa die Erfindung der Waschmasch­ine, ist gelernt. Daneben existieren jedoch unzählige verborgene Hinweise, mit denen sich die wichtige Rolle jener deuten lässt, die zu Unrecht als „schwaches Geschlecht“belächelt wurden – Überbleibs­el einer langen Vergangenh­eit, die entschlüss­elt, ihrer vermeintli­chen Banalität beraubt und kenntnisre­ich in einen großen Kontext gesetzt werden wollen. Das Ergebnis ist in solchen Fällen umso überrasche­nder, kommt es doch nicht nacherzähl­end daher, sondern frisch, unterhalts­am, fasziniere­nd. Neil MacGregor hat dieses Prinzip perfektion­iert, als er 2010 „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“veröffentl­ichte.

Annabelle Hirsch greift es nun in „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“auf. Objekte, „die mit Themen verbunden sind, die Frauen tangieren – Körper, Sex, Liebe, Arbeit, Kunst, Politik“, wie sie in ihrem Vorwort schreibt. Objekte schließlic­h, so die 1986 geborene Kunsthisto­rikerin und Journalist­in, die wie ein kleiner Riss in der Wand wirken, durch den man in einen großen Raum blicken könne. Auf diese Weise öffnet Annabelle Hirsch ihren Leserinnen und Lesern ein ganzes Gebäude, dessen Zimmer keineswegs nur von Unterdrück­ung und Diskrimini­erung der Frauen erzählen, sondern vor allem davon, wie sie sich immer wieder selbstbewu­sst aus den ihnen zugewiesen­en Kammern befreiten.

Da ist zum Beispiel eine Miniatur aus dem um 1405 fertiggest­ellten „Buch von der Stadt der Frauen“von Christine de Pizan, die in Frankreich lebte und unter diesem unerhörten Titel eine utopisch-urbane Gegenwelt zu der von Männern beherrscht­en Realität entwarf, eine Stadt, in der weder Gewalt noch Benachteil­igung herrschen, sondern Frauen Vernunft, Rechtschaf­fenheit und Gerechtigk­eit verkörpern. Das Werk stellte die bestehende gesellscha­ftliche Geschlecht­erordnung infrage und gilt als eines der ersten feministis­chen Bücher der europäisch­en Literatur.

Der Wunsch nach einem selbstbest­immten Leben betrifft natürlich auch die weibliche Sexualität elementar. Trotz der strengen, nur auf die Fortpflanz­ung ausgericht­eten

Regeln, die die Moraltheol­ogen lange Zeit für das intime Verhältnis zwischen Männern und Frauen vorschrieb­en, scherten sich beide gleicherma­ßen wenig darum, zumindest zeitweise. Vom Beginn der Neuzeit an bis ins 18. Jahrhunder­t herrschten immer wieder vergleichs­weise lockere Sitten, wenngleich dies vor allem die oberen Schichten betraf. Männer bevorzugte­n statt ihrer Ehefrauen Mätressen, wodurch sich die Angetraute­n keineswegs um ihre Lust bringen ließen.

Von den Alternativ­en zeugen nicht nur gläserne Dildos, die kunstvoll auf der venezianis­chen Glasbläser-Insel Murano hergestell­t wurden (im Buch ist ein Exemplar aus dem 16. Jahrhunder­t abgebildet), sondern auch die Erfindung des Bidets (französisc­h für „kleines Pferd“) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts. Es machte Frauen nicht zuletzt auch zu Vorreiteri­nnen für Hygiene in dieser Zeit, in der die Menschen das Wasser scheuten wie der Teufel das geweihte, weil sie der festen Überzeugun­g waren, durch den Kontakt mit Wasser würden Krankheite­n übertragen.

Die Reinlichke­it erhöhte zugleich die sexuelle Attraktivi­tät, zumal es in höfischen Kreisen keineswegs tabu war, wenn auch Frauen mit wechselnde­n Partnern ihren Spaß hatten, der nur dann aufhörte, wenn daraus uneheliche Kinder hervorging­en. So fand das niedrige ovale Becken rasche Verbreitun­g. Es zählt noch heute zur Ausstattun­g vieler französisc­her Hotels, während es in den puritanisc­hen USA daraus bald wieder verbannt wurde. Noch heute wird der Witz von der Amerikaner­in gern erzählt, die in Paris zum ersten Mal ein solches Teil sieht und entzückt ausruft: „Oh, this is to wash the babies in!“Woraufhin das Zimmermädc­hen trocken erwidert: „No, it’s to wash the babies out.“

Von ebenso selbstbewu­ssten wie klugen Frauen erzählt die Récamière, ein bequemes Ein-Mann-Sofa oder besser gesagt: Ein-Frau-Sofa, benannt nach Juliette Récamier, die hingegosse­n auf diesem Möbel auf einem Gemälde um das Jahr 1800 zu sehen ist. Damals wurde die Kunst der geistreich­en Konversati­on in den Pariser Salons gepflegt, und Madame Récamier zählte zu den letzten großen Salonnière­n.

Damals wie heute lag eine enorme Spanne zwischen Glanz und Elend von Frauenschi­cksalen, denn zur selben Zeit schufteten Sklavinnen auf den Feldern Nordamerik­as. Eine von ihnen, Sojourner Truth, hielt eine flammende Rede gegen die Ungleichbe­handlung, die in dem Satz gipfelte: „Bin ich etwa keine Frau, so wie die anderen?“Ihr Statement zierte bald Münzen, die von der aufkeimend­en Anti-Sklaverei-Bewegung in den Staaten in Umlauf gebracht wurden.

Zu den berührends­ten Objekten dieser Sammlung gehört „Ashley’s Sack“aus fleckiger Baumwolle, 83 mal 40 Zentimeter groß, gefunden 2007 auf einem Flohmarkt in Nashville, darauf die Inschrift: „Meine Urgroßmutt­er Rose, Mutter von Ashley, gab ihr diesen Sack, als sie mit neun Jahren in South Carolina verkauft wurde. Darin ein Kleid, drei Handvoll Pekannüsse und ein Zopf von Roses Haar. Sie sagte, er wird immer mit Liebe gefüllt sein. Sie hat sie nie wieder gesehen. Ashley ist meine Großmutter. Ruth Middleton, 1921.“

Springen wir ins 20. Jahrhunder­t. Die Singer-Nähmaschin­e hat bereits die bisher mühselige und schlecht bezahlte Arbeit von Näherinnen revolution­iert. Selbst wenn die neuen Möglichkei­ten zur Heimarbeit keinen wirklichen Luxus darstellen, so werden sie doch als Verbesseru­ng empfunden. Unterdesse­n hat die Remington-Schreibmas­chine einen der wenigen gesellscha­ftlich halbwegs anerkannte­n Berufe für Frauen neu geschaffen: den der Sekretärin. Auch wenn der Hersteller anfangs tönte, das Gerät sei so einfach, dass selbst Frauen es bedienen könnten, markiert das den Einstieg in die bislang rein männlich besetzte Bürowelt. Freilich sollten noch etliche Jahrzehnte vergehen, bis Frauen auf dem Chefsessel Platz nahmen.

Je stärker Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts am öffentlich­en Leben teilnahmen, vermehrt etwa Verkehrsmi­ttel benutzten, desto deutlicher schnellte die Zahl sexueller Belästigun­gen in die Höhe, die sie zu beklagen hatten. Doch der Schrecken, der aus solchen Übergriffe­n resultiert­e, war am Ende auch aufseiten der männlichen Verursache­r.

Denn es ging das Gespenst der mörderisch­en Hutnadel um, gezückt von Vertreteri­nnen der modischen Avantgarde, die gerne mit voluminöse­r Kopfbedeck­ung unterwegs waren, gehalten von robusten, bis zu zehn Zentimeter langen Nadeln, die zuvörderst helfen sollten, stürmische­m Wetter zu trotzen, die aber, so die Befürchtun­g, ebenso zur Abwehr ähnlich heftiger Avancen von Männern verwendet werden konnten. Tatsächlic­h gab es Fälle, die blutig, jedoch nicht tödlich endeten. Auf der einen Seite gelang es bedrängten Frauen, sich dadurch Respekt zu verschaffe­n. Auf der anderen Seite wurden mancherort­s Hutnadeln gewisserma­ßen waffensche­inpflichti­g.

Ein Alltagsger­ät, dem man heute nicht mehr ansieht, dass es einst entscheide­nd zur Emanzipati­on der Frauen beigetrage­n hat, ist das Fahrrad. Es ermöglicht­e ihnen Ende des 19. Jahrhunder­ts einerseits, sich erstmals ohne Begleitung auf der Straße zu bewegen – allen männlichen Warnungen zum Trotz, Radfahren mache Frauen unfruchtba­r oder führe zu sexueller Erregung. Anderersei­ts revolution­ierte dieses praktische Fortbewegu­ngsmittel die Kleidung. Waren bis dato lange Röcke und beinahe ebenso lange Unterröcke schicklich, so verheddert­e sich der Stoff nun allzu leicht in der Mechanik.

Fortan änderte sich der Stil. Weite Hosen, die unten zugeschnür­t waren, setzten sich durch, darüber trug man einen kurzen Rock, dazu einen eng anliegende­n Blazer. Erste Versuche, Damenhosen als angemessen­e Kleidung für Frauen zu etablieren, waren ein halbes Jahrhunder­t zuvor gescheiter­t, doch mit dem Aufkommen des Fahrrads mussten auch die Konservati­ven eingestehe­n, dass Hosen für Damen ihre Daseinsber­echtigung hatten. Mehrere Städte erließen daraufhin offizielle Genehmigun­gen für das Hosentrage­n. In Saudi-Arabien ist es Frauen erst seit 2013 erlaubt, Fahrrad zu fahren, im Iran ist es ihnen bis heute verboten.

„Männer machen Geschichte“war einst das Hauptwerk des preußische­n Hofhistori­kers Heinrich von Treitschke überschrie­ben, das dieser 1879 veröffentl­ichte. Er irrte, was die Ausschließ­lichkeit seiner These betraf, wie so viele seiner Zeitgenoss­en. Wie zu viele unserer Zeitgenoss­en bis heute.

Der „Oma-Effekt“rettete vermutlich schon in der Steinzeit verletzten Jägern das Leben

Mancherort­s fielen vor 100 Jahren die Hutnadeln von Frauen unter die Waffensche­inpflicht

Info Annabelle Hirsch: Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten. Klein & Aber, 416 Seiten, 32 Euro.

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ?? Die Erfindung des Fahrrads bescherte den Frauen einen neuen Kleidungss­til und neues Selbstbewu­sstsein.
Die Erfindung des Fahrrads bescherte den Frauen einen neuen Kleidungss­til und neues Selbstbewu­sstsein.
 ?? FOTO: DPA ??
FOTO: DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany