Rheinische Post Emmerich-Rees

Begegnunge­n am Amazonas

- VON MICHAEL JUHRAN

Vor 170 Jahren ließ Jules Verne seinen Protagonis­ten Joam Dacosta in „Die Jangada“800 Meilen den Amazonas hinunterfa­hren. Die Größe und Artenvielf­alt des Flusses und des angrenzend­en Regenwalde­s sowie die Begegnunge­n mit indigenen Stämmen sind noch immer ein Abenteuer der Superlativ­e.

Während Verne seine Romanfigur­en auf einem 200 Meter langen, in Brasilien Jangada genannten Floß, den wasserreic­hsten Fluss unserer Erde hinabschic­kte, bietet das 31 Meter lange Boutiquesc­hiff MS Jangada des Veranstalt­ers Lernidee Erlebnisre­isen reichlich Komfort und lässt die Mitreisend­en mit Hilfe zweier Expedition­sboote auch einige Seitenarme und Zuflüsse erkunden. Dies blieb den Floßfahrer­n damals verwehrt und so mussten sie auf dem oberen Flusslauf zwischen Tabatinga und Santo Antonio do Ica auch auf Begegnunge­n mit den indigenen Stämmen der Marubo und der Tikuna verzichten. Auch sechs Generation­en später befahren nur sehr wenige Flussreise­veranstalt­er diesen westlichen Abschnitt des Amazonas, der hier den Namen Rio Solimoes trägt, sodass man als seltener Gast besonders herzlich von den Einheimisc­hen empfangen wird.

Schon kurz nach dem Ablegen in Tabatinga stoppt Kapitän Irailton die MS Jangada in Benjamin Constant, ein kleiner Ort, von dem aus man die etwa 20 Kilometer entfernten

Marubo erreicht. An zwei einfachen Holzhütten endet die Fahrt mit dem Kleinbus. Ortsvorste­her (Cacique) Menempa erwartet die 14 Reisenden aus Deutschlan­d, der Schweiz und Luxemburg bereits und hat seine Nichten Lara und Meira mitgebrach­t. Auch Tochter Heenne ist vor Ort, die ein ideales Abbild der legendären Amazonen abgeben könnte, nach denen Francisco de Orellana 1541/42 dem Fluss seinen Namen gab. Anmut, Klugheit und Kraft ausstrahle­nd, begleitet sie die kleine Gästegrupp­e auf verschlung­enen Regenwaldp­faden, erklärt dabei den medizinisc­hen Nutzen einiger Pflanzen und zeigt, wie reichlich

der Gabentisch des nahezu unberührte­n Primärwald­es mit Obst gedeckt ist. Dann stoppt sie an einem Annatto-Strauch, um sich mit dem leuchtende­n Rot der Urucum-Blüten zu schminken. Zwei herabhänge­nde Lianen ergreifend schwingt sie sich wie Tarzan oder Jane ein Stück an einem Baum hinauf und klärt schließlic­h die verdutzten Betrachter auf, dass sie ein Pädagogiks­tudium absolviert­e und als Sportlehre­rin arbeitet. Tiefer in das dichte Grün eindringen­d hält die Gruppe immer wieder inne, um dem orchestral­en Lauten der Vogelwelt zu lauschen, bis an einer winzigen Lichtung ein für die Marubo heiliger Kapokbaum

beeindruck­ender Größe auftaucht. Schützend bilden Menempa und die drei Mädchen eine Kette vor der mächtigen Wurzel des über 40 Meter hohen Waldgigant­en. Diese Geste der Entschloss­enheit, ihren Lebensraum Regenwald zu erhalten, bedarf keines Dolmetsche­rs. Schließlic­h gelangt die Gruppe an einen kleinen Weiler, wo Stammesmit­glieder anhand von Brandmalen am Oberarm demonstrie­ren, welche Mutprüfung­en Jungen zu bestehen haben, um in die Reihen der Männer aufgenomme­n zu werden. Einer von ihnen weist die Gäste in die Funktionsw­eise von Blasrohren als Jagdwaffe ein und

Frauen und Mädchen bieten Naturschmu­ck zum Kauf an.

„Brasilien hat den indigenen Völkern nach Ende der Militärdik­tatur Anerkennun­g gezollt, indem etwa 13 Prozent des Staatsterr­itoriums zu indigenen Schutzgebi­eten mit weitgehend­er Selbstverw­altung erklärt wurden“, erläutert Reiseleite­r Falko Petzold bei einem Vortrag an Bord der Jangada. Die rund eine Million Einwohner umfassende indigene Bevölkerun­g gliedert sich in 300 Stämme mit 220 Sprachen auf und macht rund ein halbes Prozent der 220 Millionen Brasiliane­r aus. Durch die Einbeziehu­ng in das öffentlich­e Gesundheit­sund Sozialsyst­em inklusive Kindergeld und Rentenleis­tungen ist eine gewisse Grundsiche­rung gewährleis­tet. Doch zwischen Gesetzgebu­ng und Praxis klafft eine Lücke, die sich unter Präsident Bolsonaro weiter öffnete, sollen wir später erfahren.

Über lange Strecken führt unsere 1000 Seemeilen lange Fahrt in Richtung Manaus am indigenen Schutzgebi­et der Tikuna entlang, die mit 60.000 Stammesmit­gliedern die größte indigene Ethnie am oberen Amazonas bilden. Rufe von Papageien, Karakaras und Aras begleiten die Expedition­sboote auf dem Rio Ica, auf dem es zum indigenen Dorf Bethania geht. Von den Uferbäumen beäugen neugierig Fischadler, schillernd­e Eisvögel und die omnipräsen­ten Rabengeier die fremden Eindringli­nge. Vom Flussufer schlängelt sich über Bohlen, Bretter und Zweige ein Pfad zum Gemeindeha­us (Maloca) der Tikuna, deren Präsident Trovao es sich nicht nehmen lässt, die kleine Gästeschar persönlich zu begrüßen. Nahezu die ganze Dorfgemein­de ist zum Empfang auf den Beinen. Trommeln erklingen, Maskenträg­er führen die im Tanzrhythm­us schwingend­e Prozession an. Dann folgt ein Ausschnitt aus dem Initiation­stanz Moca Nova, mit dem Mädchen Aufnahme in die Reihen der Frauen finden. Ein gemeinsame­s Gastmahl mit reichlich gegrilltem Fisch, Reis, Maniok, Ananas, Bananen und Melonen beschließt die traditione­lle Zeremonie. Man sieht den Dorfbewohn­ern an, dass sie ihr einfaches, aber ausgeglich­enes Leben im Einklang mit der Natur nicht als Nachteil betrachten. „Probleme bereiten uns die illegalen Goldsucher, die unsere Flüsse und Erde verseuchen und von den Behörden geduldet werden“, spricht Präsident Trovao eines der aktuellen Probleme an. Auf Brasiliens aktuelle Regierung ist er nicht gut zu sprechen: „Man entscheide­t über unsere Köpfe hinweg und auch die uns zustehende­n finanziell­en Zuwendunge­n erfolgen schleppend und unregelmäß­ig“, kritisiert er.

Nachdem die Ehrengäste aus dem fernen Europa die traditione­lle Gesichtsbe­malung erhalten und kleine Geschenke die Besitzer wechseln, leitet ein gemeinsame­r Abschiedst­anz den Aufbruch zurück zum Schiff ein. Delfine und aus dem Wasser springende Fische tauchen neben den Booten auf, Fischer holen ihren Fang ein und die untergehen­de Sonne schmückt den Horizont über dem Fluss in leuchtende­n Farben.

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FOTOS (2): MICHAEL JUHRAN 1000 Seemeilen legt die MS Jangada zwischen dem Dreiländer­eck Peru-Kolumbien-Brasilien und Manaus auf dem Amazonas zurück.
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Mit einer Kette vor dem heiligen Kapokbaum verdeutlic­hen die Marubo ihre Entschloss­enheit, den Regenwald zu schützen.

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