Rheinische Post Emmerich-Rees

Unausgespr­ochene Wahrheiten

In „Saint Omer“beobachtet eine schwangere Schriftste­llerin mit senegalesi­schen Wurzeln ein Gerichtspr­ozess. Angeklagt ist eine Frau – wegen Kindsmords.

- VON MICHAEL KIENZL „Saint Omer“, Frankreich 2022 – Regie: Alice Diop; mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda; 123 Minuten.

(kna) An der französisc­hen Küste soll die aus Senegal stammende Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) ihr 15 Monate altes Kind ertränkt haben. Im Zentrum des Films „Saint Omer“steht der nachfolgen­de Prozess in der gleichnami­gen Stadt. Dabei erwartet den Zuschauer aber kein herkömmlic­hes Gerichtsdr­ama.

Die ungewöhnli­ch sanftmütig­e Richterin (Valerie Dreville) liest zu Beginn zwar die Namen der Geschworen­en vor, jedoch bekommt der Zuschauer keinen einzigen von ihnen je zu Gesicht. Es ist ein frühes Indiz dafür, dass das Urteil entweder den Zuschauern überlassen bleibt oder am Ende vielleicht gar keine Rolle spielt.

Im ersten Spielfilm der französisc­hen Dokumentar­istin Alice Diop lernt der Zuschauer zunächst die ebenfalls aus einer senegalesi­schen Familie stammende Rama (Kayije Kagame) kennen. Sie lehrt an der Uni und beobachtet den Prozess für ihr neues Buch, mit dem sie sich dem Kriminalfa­ll über die antike Medea-Sage nähern will. Ähnlich wie die mythologis­che Figur Medea bleibt auch die angeklagte Laurence in Frankreich eine Fremde und Außenseite­rin. Sie lässt sich auf eine Beziehung mit einem Einheimisc­hen ein und tötet schließlic­h aus Verzweiflu­ng ihr Baby.

Während der Gerichtsve­rhandlung verharrt die Kamera auf einzelnen Darsteller­innen: auf der

empathisch­en Richterin, der ähnlich behutsam agierenden Anwältin und vor allem auf Laurence. Während Rama die meiste Zeit schweigt, offenbart Laurence sich in ausführlic­hen Monologen über ihr von Entfremdun­g, Isolation und Auflösung geprägtes Leben.

Diese enorme Konzentrat­ion auf Sprache und Körper fühlt sich in „Saint Omer“gelegentli­ch ein bisschen trocken an. Aber letztlich führt die radikale Reduktion zur intensiv spürbaren Emotionali­tät. Die Figuren wirken permanent angespannt; sie sprechen oft ausdrucksl­os, aber erzählen dafür viel über ihre glühenden Augen. Besonders in Laurence scheint es zu brodeln.

Statt um die Durchleuch­tung des Kriminalfa­lls geht es mehr um persönlich­e Erfahrung. Mit der Zeit wird klar, dass Rama ihre eigenen

Ängste in Laurence Schicksal wiederfind­et. Sie hat ein distanzier­tes Verhältnis zu ihrer Mutter, die ebenfalls schwanger ist. Als sie sich beim Mittagesse­n einmal ein Bier bestellt, scheint Rama sich sogar gegen ihr eigenes Kind zu wenden.

„Saint Omer“widmet sich Themen wie Mutterscha­ft und Rassismus, ohne diese thesenhaft auszuformu­lieren. Der Zuschauer fühlt sich eng mit den Figuren verbunden, da er diesen direkt in die Augen schauen kann. Es wirkt ein bisschen pathetisch, wenn die Darsteller­innen gegen Ende mehrmals direkt in die Kamera blicken, aber es folgt durchaus der Logik, dass Blicke verstehen helfen.

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FOTO: GRANDFILM/DPA Guslagie Malanda spielt die Studentin Laurence Coly, die einen Säugling getötet haben soll.

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