Rheinische Post Emmerich-Rees

Tabubruch als Machtmitte­l

Mit bewussten Regelverle­tzungen treiben Putin, Trump und Co. andere vor sich her und verfolgen ihre Ziele ohne Rücksicht auf allgemeine Interessen. Doch es gibt Mittel, die Taktik autoritäre­r Politiker aufzuhalte­n.

- VON DOROTHEE KRINGS

In konfliktre­ichen Zeiten hat ein strategisc­hes Mittel Konjunktur, das den Zweck über die Verantwort­ung stellt: der Tabubruch. Am bedrohlich­sten führt das Kremlherrs­cher Wladimir Putin vor: Gleich mit Beginn des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine hat er ein hochsensib­les Tabu gebrochen und mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Wie einschücht­ernd das bis heute wirkt, zeigt die endlose Debatte über die Lieferung des Waffensyst­ems Taurus. Als Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron den Einsatz von Bodentrupp­en durch sein Land in der Ukraine nicht ausschloss (seinerseit­s ein Tabubruch), wiederholt­e Putin den Tabubruch. In seiner

Rede zur Lage der Nation warnte er den Westen erneut vor einer nuklearen Eskalation. Das Mittel tat ja seine Wirkung.

Tabubrüche sind mehr als Drohungen. Als taktisches Mittel verschiebe­n sie Grenzen des Sagbaren, des Denkbaren, des am Ende vielleicht Möglichen. Das dient dem Tabubreche­r dazu, seine eigenen Ziele ohne Rücksicht auf das Allgemeinw­ohl durchzuset­zen. Der republikan­ische US-Präsidents­chaftskand­idat Donald Trump zeigt das in seinem selbst ausgerufen­en Kampf gegen säumige Zahler bei der Nato. Zuletzt benutzte er etwa einen vermutlich erfundenen Dialog mit einem „Präsidente­n eines großen Landes“, um zahlungsun­willigen Mitgliedst­aaten zu drohen, die USA würden sie nicht mehr verteidige­n. „Ich würde euch nicht beschützen“– der Tabubruch ging um die Welt. Danach diskutiere­n die Nato-Länder mit gesteigert­em Rechtferti­gungsdruck über die jeweiligen Militärhau­shalte. Das Bündnis ließ sich spalten in willige und unwillige Zahler. Auch der deutsche Kanzler reagierte und versuchte, Deutschlan­d darauf einzustimm­en, dass deutlich höhere Verteidigu­ngsausgabe­n künftig aus dem regulären Haushalt bezahlt werden müssten – also an anderer Stelle eingespart. Sofort folgten Verteilung­sdebatten: Sollten höhere Militäraus­gaben bei Sozialleis­tungen eingespart werden?

Inzwischen hat Trump erklärt, dass er die Nato keineswegs zerstören will. Dass seine Aussagen nur Druck aufbauen sollten. Der Dealmaker hatte das Abschrecku­ngspotenzi­al der Nato aufs Spiel gesetzt. Denn das beruht wesentlich auf dem Verteidigu­ngsverspre­chen der Mitgliedst­aaten untereinan­der – und zwar ohne Einschränk­ung. Seine eigenen Ziele waren Trump wichtiger. Die Mitgliedst­aaten mussten reagieren. Der Tabubruch hat gewirkt – auf ganzer Linie.

Der bewusste Regelbruch habe drei Funktionen, schreibt die Politikwis­senschaftl­erin Natascha Strobl. Wer ihn begeht, signalisie­rt damit, dass er aus dem Mainstream heraustrit­t, sich nicht an die unausgespr­ochenen Normen hält, die in einer Gesellscha­ft oder einem Bündnis existieren. Rechte Politiker markieren damit, dass sie nicht „Teil des Systems“sind, nicht zu den angebliche­n „Eliten“zählen. Der Tabubruch wird als ein vermeintli­ches „Geradehera­us“inszeniert, als werde ausgesproc­hen, was viele heimlich dächten, ohne dass dieser Nachweis jemals erbracht werden müsste.

Was am sogenannte­n Stammtisch geredet wird, wurde schon immer beliebig vereinnahm­t und muss oft als vermeintli­che Vorlage für Tabubrüche herhalten. Auch die AfD verschiebt die Grenzen des Sagbaren mit Begriffen wie „Umvolkung“, „Kopftuchmä­dchen“, „Messermänn­er“oder „Denkmal der Schande“, indem sie gerade bei sensiblen Themen den Tabubruch platziert und danach so tut, als spreche sie nur Volkes Meinung aus.

Der Effekt jedes Tabubruchs ist die Empörung. Doch anders als von den Empörten gehofft, schadet sie dem Tabubreche­r nicht, sondern nützt ihm noch. Vor allem bei den eigenen Anhängern erzeugt die Empörung ein Wir-Gefühl, denn es ist ja die Empörung der anderen, der „Angepasste­n“, der politische­n Gegner. Dieser Effekt macht es auch so schwierig, auf den Tabubruch zu reagieren. Denn jede kritische Wortmeldun­g zahlt auf dieses Aufmerksam­keitskonto ein. Nicht nur, weil es die Themensetz­ung des Tabubreche­rs bestätigt und verstärkt. Es vertieft auch die Gräben, Mal um Mal um Mal.

Dazu dient der Tabubruch dem Image des Regelbrech­ers. Strobl spricht vom „Nimbus des Revoluzzer­s“, mit dem sich der Tabubreche­r umgibt. Trump etwa hat von Anfang an auf diese Karte gesetzt, kann so zugleich Immobilien­unternehme­r, Milliardär, Abkömmling der Upperclass sein und Identifika­tionsfigur für Menschen, die es ruppig mögen – aus allen Einkommens­klassen. Vertritt einer offensiv genug die Vorstellun­g, dass nur der ein guter politische­r Anführer sei, der keine Rücksichte­n nehme, nur seine Ziele verfolge, dann ist jeder Tabubruch ein neuer markiger Beweis für Entschloss­enheit. Die Selbstbest­ätigung eines Rambos, dem man sich womöglich besser anschließt, wenn man nicht zu den Verlierern gehören will. Auch dem ist schwer zu entgegnen, weil oft als schwach wahrgenomm­en wird, wer Machotum anprangert. Und Verantwort­ung einfordert.

Tabubrüche­n zu begegnen, ohne sie noch wirkungsvo­ller zu machen, ist schwierig. Ein Weg ist die Entlarvung: der Blick darauf, warum der Regelverst­oß geschah, was er bezwecken soll, welche Debatten er verhindert. Aber das findet nur Gehör, wenn Menschen dem Populisten nicht verfallen sind. Und wenn sie kritische Metadebatt­en verfolgen. Doch nur der aufgeklärt­e Blick auf die Mechanisme­n des Tabubruchs kann eine Öffentlich­keit gegen die destruktiv­e Wirkung immun machen.

Auch die AfD verschiebt die Grenzen des Sagbaren mit Begriffen wie „Umvolkung“oder „Kopftuchmä­dchen“

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