Tabubruch als Machtmittel
Mit bewussten Regelverletzungen treiben Putin, Trump und Co. andere vor sich her und verfolgen ihre Ziele ohne Rücksicht auf allgemeine Interessen. Doch es gibt Mittel, die Taktik autoritärer Politiker aufzuhalten.
In konfliktreichen Zeiten hat ein strategisches Mittel Konjunktur, das den Zweck über die Verantwortung stellt: der Tabubruch. Am bedrohlichsten führt das Kremlherrscher Wladimir Putin vor: Gleich mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat er ein hochsensibles Tabu gebrochen und mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Wie einschüchternd das bis heute wirkt, zeigt die endlose Debatte über die Lieferung des Waffensystems Taurus. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Einsatz von Bodentruppen durch sein Land in der Ukraine nicht ausschloss (seinerseits ein Tabubruch), wiederholte Putin den Tabubruch. In seiner
Rede zur Lage der Nation warnte er den Westen erneut vor einer nuklearen Eskalation. Das Mittel tat ja seine Wirkung.
Tabubrüche sind mehr als Drohungen. Als taktisches Mittel verschieben sie Grenzen des Sagbaren, des Denkbaren, des am Ende vielleicht Möglichen. Das dient dem Tabubrecher dazu, seine eigenen Ziele ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl durchzusetzen. Der republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump zeigt das in seinem selbst ausgerufenen Kampf gegen säumige Zahler bei der Nato. Zuletzt benutzte er etwa einen vermutlich erfundenen Dialog mit einem „Präsidenten eines großen Landes“, um zahlungsunwilligen Mitgliedstaaten zu drohen, die USA würden sie nicht mehr verteidigen. „Ich würde euch nicht beschützen“– der Tabubruch ging um die Welt. Danach diskutieren die Nato-Länder mit gesteigertem Rechtfertigungsdruck über die jeweiligen Militärhaushalte. Das Bündnis ließ sich spalten in willige und unwillige Zahler. Auch der deutsche Kanzler reagierte und versuchte, Deutschland darauf einzustimmen, dass deutlich höhere Verteidigungsausgaben künftig aus dem regulären Haushalt bezahlt werden müssten – also an anderer Stelle eingespart. Sofort folgten Verteilungsdebatten: Sollten höhere Militärausgaben bei Sozialleistungen eingespart werden?
Inzwischen hat Trump erklärt, dass er die Nato keineswegs zerstören will. Dass seine Aussagen nur Druck aufbauen sollten. Der Dealmaker hatte das Abschreckungspotenzial der Nato aufs Spiel gesetzt. Denn das beruht wesentlich auf dem Verteidigungsversprechen der Mitgliedstaaten untereinander – und zwar ohne Einschränkung. Seine eigenen Ziele waren Trump wichtiger. Die Mitgliedstaaten mussten reagieren. Der Tabubruch hat gewirkt – auf ganzer Linie.
Der bewusste Regelbruch habe drei Funktionen, schreibt die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl. Wer ihn begeht, signalisiert damit, dass er aus dem Mainstream heraustritt, sich nicht an die unausgesprochenen Normen hält, die in einer Gesellschaft oder einem Bündnis existieren. Rechte Politiker markieren damit, dass sie nicht „Teil des Systems“sind, nicht zu den angeblichen „Eliten“zählen. Der Tabubruch wird als ein vermeintliches „Geradeheraus“inszeniert, als werde ausgesprochen, was viele heimlich dächten, ohne dass dieser Nachweis jemals erbracht werden müsste.
Was am sogenannten Stammtisch geredet wird, wurde schon immer beliebig vereinnahmt und muss oft als vermeintliche Vorlage für Tabubrüche herhalten. Auch die AfD verschiebt die Grenzen des Sagbaren mit Begriffen wie „Umvolkung“, „Kopftuchmädchen“, „Messermänner“oder „Denkmal der Schande“, indem sie gerade bei sensiblen Themen den Tabubruch platziert und danach so tut, als spreche sie nur Volkes Meinung aus.
Der Effekt jedes Tabubruchs ist die Empörung. Doch anders als von den Empörten gehofft, schadet sie dem Tabubrecher nicht, sondern nützt ihm noch. Vor allem bei den eigenen Anhängern erzeugt die Empörung ein Wir-Gefühl, denn es ist ja die Empörung der anderen, der „Angepassten“, der politischen Gegner. Dieser Effekt macht es auch so schwierig, auf den Tabubruch zu reagieren. Denn jede kritische Wortmeldung zahlt auf dieses Aufmerksamkeitskonto ein. Nicht nur, weil es die Themensetzung des Tabubrechers bestätigt und verstärkt. Es vertieft auch die Gräben, Mal um Mal um Mal.
Dazu dient der Tabubruch dem Image des Regelbrechers. Strobl spricht vom „Nimbus des Revoluzzers“, mit dem sich der Tabubrecher umgibt. Trump etwa hat von Anfang an auf diese Karte gesetzt, kann so zugleich Immobilienunternehmer, Milliardär, Abkömmling der Upperclass sein und Identifikationsfigur für Menschen, die es ruppig mögen – aus allen Einkommensklassen. Vertritt einer offensiv genug die Vorstellung, dass nur der ein guter politischer Anführer sei, der keine Rücksichten nehme, nur seine Ziele verfolge, dann ist jeder Tabubruch ein neuer markiger Beweis für Entschlossenheit. Die Selbstbestätigung eines Rambos, dem man sich womöglich besser anschließt, wenn man nicht zu den Verlierern gehören will. Auch dem ist schwer zu entgegnen, weil oft als schwach wahrgenommen wird, wer Machotum anprangert. Und Verantwortung einfordert.
Tabubrüchen zu begegnen, ohne sie noch wirkungsvoller zu machen, ist schwierig. Ein Weg ist die Entlarvung: der Blick darauf, warum der Regelverstoß geschah, was er bezwecken soll, welche Debatten er verhindert. Aber das findet nur Gehör, wenn Menschen dem Populisten nicht verfallen sind. Und wenn sie kritische Metadebatten verfolgen. Doch nur der aufgeklärte Blick auf die Mechanismen des Tabubruchs kann eine Öffentlichkeit gegen die destruktive Wirkung immun machen.
Auch die AfD verschiebt die Grenzen des Sagbaren mit Begriffen wie „Umvolkung“oder „Kopftuchmädchen“