Beste Freundinnen statt Romanfiguren
„Am Meer“von Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout liest sich, als sitze man mit seiner Lieblingsperson bei einer Tasse Tee.
Nicht alle Freunde gibt es wirklich, manche bestehen bloß aus Buchstaben und Druckerschwärze, aber das ändert nichts daran, dass man sie sehr gerne hat. Lucy Barton ist so eine Person; viele Menschen haben sie ins Herz geschlossen, obwohl sie ihr nie begegnen werden. Lucy – Freundinnen nennt man beim Vornamen! – spricht viel, und wenn es anfängt, aus ihr herauszubrechen, meint man, mit ihr über einer Tasse dampfenden Tees zu sitzen. Man nickt dann viel, presst verständnisvoll die Lippen aufeinander, und vielleicht seufzt man hin und wieder: „Ach, Lucy.“Das machen alle, wenn Lucy mit ihnen spricht. Ist so ein Reflex.
Die Figur der Lucy Barton wurde von der amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Strout geschaffen. Gerade erschien der vierte Roman mit Lucy als Hauptfigur auf Deutsch. Er heißt „Am Meer“und setzt eine Soap Opera fort, die das Publikum nun in die Kleinstadt Crosby in Maine führt. Auch die hat sich Strout ausgedacht, aber sie beschreibt sie so detailreich, hingebungsvoll und empathisch, dass niemand Crosby von einem echten Ort wird unterscheiden können. Gleich nebenan könnte übrigens Castle Rock liegen, der erfundene und ebenfalls wie belebt erscheinende Ort im selben Bundesstaat, an dem die besten Geschichten von Stephen King spielen.
Die Romane von Strout muss man nicht nach der Reihe ihrer Veröffentlichung lesen, aber wer einen beendet hat, wird alle wollen. Sie erzählen die Wirklichkeit beinahe in Echtzeit nach, die Realität pustet mit kaltem Atem in diese körperwarmen Romane, und „Am Meer“beginnt 2020, als in New York die ersten Menschen an Covid erkranken. Lucy lebt dort als Schriftstellerin, sie ist wie ihre Schöpferin Ende 60, und weil Lucys kümmerfreudiger Ex-Mann William Wissenschaftler ist und ahnt, was passieren wird, überredet er sie, die Metropole zu verlassen und mit ihm in ein Haus auf einem Felsvorsprung am Meer zu ziehen. Sie werden dort lange bleiben.
Keine Sorge, „Am Meer“ist kein Corona-Roman, nicht in erster Linie jedenfalls. Er wirkt vielmehr wie ein Abend mit einem unheimlich tollen Menschen, den man lange nicht gesehen und auf den man sich gefreut hat. Das Besondere an der Prosa Elizabeth Strouts und am Reden Lucy Bartons ist der Sound. Lucy plaudert sich durch die Seiten, als spreche sie eine vertraute Person an, der sie von ihren Gefühlen und Gedanken berichtet. Ihre Sätze sind durchwirkt mit Formulierungen wie „das sollte ich hier kurz dazusagen“und „aber was ich eigentlich sagen will“. Das erzeugt Unmittelbarkeit. Und weil Strout eine großartige Autorin ist, kommt sie nichts in Labern, sondern entschlackt ihre Sätze, stellt sie an die genau richtige Stelle und schnürt sie zu kleinen Päckchen, die jeweils mit drei Sternen im Druckbild voneinander getrennt werden.
Lucy nimmt Anteil an der Gegenwart und an ihrer Umwelt. Indem sie darüber reflektiert, macht sie sich einen Reim darauf. Sie ist eine Schwester im Geiste von Frank Bascombe, jener Romanfigur, die Richard Ford seit Jahrzehnten immer wieder auftreten lässt. Man kann mit diesen beiden Schriftmenschen altern, und sie muten so echt an, dass sie als Begleiter und Ratgeber fungieren. Bei Strout kehren auch Nebenfiguren zurück. Sie entwirft das Wimmelbild eines Ortes und des Lebens an sich. In „Am Meer“hat sogar Olive Kitteridge einige Szenen. Das ist die griesgrämige Mathe-Lehrerin, der Strout eine eigene Romanreihe widmete, für deren ersten Teil „Mit Blick aufs Meer“sie 2009 mit dem Pulitzerpreis geehrt wurde. In der Serienverfilmung wird Olive von Frances McDormand gespielt, Tom Hanks gehört zu den Produzenten. Sehr schön: Lucy mag Olive nicht besonders, sie nennt sie „Ochsenfrosch“.
In dem Haus mit Veranda kommt Lucy allmählich ihrem Ex-Mann näher. Die beiden bilden eine Gemeinschaft, die sich gegen die Weltlage
stemmt. Über die Herausforderungen der Liebe im Alter spricht Lucy offen. Und immer wieder streifen Ereignisse der Vergangenheit durch ihr Gehirn. Sie betreibt Rückschau und Bewältigung, lakonisch und heiter. Das Publikum dürfte sich in vielem wiedererkennen: Wie man irgendwo ein Detail bemerkt, ein zu kurzes Hosenbein etwa, und direkt an einen Menschen von früher denkt. Wie man abschweift und grübelt und zu immer gleichen biografischen Ereignissen zurückkehrt.
Es ist fabelhaft: Von diesen Büchern geht eine tröstliche, heilsame Wirkung aus. Vielleicht, weil Lucy die Königin der Einfühlung ist. Vielleicht, weil sie ist, wie sie ist. Aber wahrscheinlich, weil sie ein Mensch ist. „Ich bin einfach dumm, Bob“, sagt Lucy zu Bob Burgess, auch so eine Figur, die erneut auftritt: „In weltlichen Dingen bin ich dumm.“Und Bob entgegnet: „Über das menschliche Herz wissen Sie jedenfalls sehr viel, Lucy.“Und das stimmt. In „Am Meer“schlägt ein großes Herz.
„Wir alle leben mit Menschen und Orten und Dingen, denen wir großes Gewicht beimessen. Aber am Ende wiegen wir nichts“, denkt die Hauptfigur in einer schlaflosen Nacht. Was bleibt darauf zu sagen? Ach, Lucy.