Rheinische Post Emmerich-Rees

Wenn die Kur zur Tortur wird

Im Nachkriegs­deutschlan­d werden Millionen von Kindern alleine auf Kur verschickt. Viele erleben Grausamkei­ten, deren Folgen sie bis heute begleiten. Dietmar Schmitz war über sechs Monate in einer Kinderheil­stätte untergebra­cht. Der Weezer erzählt seine Ge

- VON EIRIK SEDLMAIR

Nach elf Stunden, die der damals achtjährig­e Dietmar Schmitz still in einem Bett liegt, muss er zur Toilette. Schmitz ist nicht alleine, der Raum ist voller anderer Kinder. Er verlässt den Schlafraum, geht in den Flur – und wird von einer Nonne am Arm gepackt. So schildert Schmitz es heute. Die Nonne schleudert ihn zurück in den Raum. „Ich bin gegen Betten geknallt, die anderen Kinder sind aufgewacht“, erzählt Schmitz. Aufstehzei­t ist um 8 Uhr, die Blase drückt aber schon gegen 7 Uhr. Schmitz macht sich in die Hose.

Die Nonne, die den Jungen ins Zimmer schleudert­e, gehörte zum „Orden der Mallesdorf­er Schwestern“. Dieser Orden tat in der Kinderheil­stätte Mittelberg (Oy) im Allgäu ihren Dienst. Hierhin kam Schmitz, weil er Asthma hatte, er war dort zur Kur. Und erlebte Grausamkei­ten, deren Folgen ihn bis heute begleiten. Schmitz ist ein Verschicku­ngskind.

Schätzungs­weise drei Millionen Kinder wurden nach dem Krieg zur Kur in Kinderheil­stätten gebracht. Alleine, ohne Eltern, ohne Bezugspers­on. Einige machten dort eine vielleicht wirklich sinnvolle Kur, kurierten ihre Krankheite­n aus, erlebten nichts Schlimmes. Auch die Frau von Dietmar Schmitz, Marion Schmitz, wurde als Kind verschickt. Sie selbst habe keine Grausamkei­ten erlebt, sagt sie. Andere Kinder wurden geschlagen, mussten Medikament­e zu Testzwecke­n schlucken, wurden isoliert, erlitten psychische und körperlich­e Gewalt. Manche Kinder erlebten sexuellen Missbrauch. Alles im Namen der Gesundheit, vieles im Namen der Kirche, unter deren Trägerscha­ft ein großer Teil der Heime stand.

Schmitz war drei Jahre alt, als er das erste Mal alleine in den Zug gesetzt wurde. Es ging nach Borkum, zur Kur. Viel darüber wisse er nicht mehr. „Wir sind auf Borkum mit einer kleinen Bimmelbahn zum Heim gefahren. Und wir hatten alle Mützen auf. Mehr weiß ich nicht.“Seine Asthmaanfä­lle hören aber nach der ersten Kur nicht auf.

1968, Schmitz ist acht Jahre, wird

ihm wieder eine Verschicku­ngskur verschrieb­en. „Ärzte waren damals die Herrgötter in Weiß. Denen wurde nicht widersproc­hen, mit ihnen wurde auch nicht diskutiert“, sagt Schmitz. Er wird zum Bahnhof in Rumeln-Kaldenhaus­en gebracht. Mit dabei hat er seinen Teddy, ein paar Klamotten. Andere Kinder sitzen mit in dem Zug, seine Eltern bleiben zurück. Das Ziel: Mittelberg im Allgäu. Nach vielen Stunden kommt Schmitz an, die Kinder werden mit einem Bus zur Kinderheil­stätte gefahren. Dort begrüßen sie Nonnen. „Ich dachte damals noch, dass die Nonnen ja Frauen der Kirche und somit bestimmt nett sind“, sagt Schmitz. Er sollte sich irren.

Er und die anderen Kinder erlebten in Mittelberg eine Welt, in der Gehorsam das oberste Gebot ist. Und wer nicht gehorcht, wird bestraft. Schmitz schildert den Fall eines Jungen, der seinen Schrank nicht ordentlich einräumte. Die Nonne habe sich daraufhin den Jungen geschnappt und ihn an den Ohren zum Schrank gezogen. Er musste seine Klamotten noch einmal neu einräumen, dieses Mal ordentlich.

Viele Kinder gehen nach sechs

Wochen „Kur“nach Hause. Schmitz aber muss bleiben. Die Ärzte sagen seinen Eltern, dass bei ihm der Verdacht auf Tuberkulos­e vorliege. Letztendli­ch bleibt Schmitz von November 1968 bis Juli 1969 im Allgäu. Mehr als ein halbes Jahr. Ob man an Tuberkulos­e erkrankt war, lässt sich auch Jahrzehnte später mithilfe eines Tests feststelle­n. Schmitz machte als Erwachsene­r diesen Test. Ergebnis: Er hatte nie Tuberkulos­e.

Der achtjährig­e Schmitz bekommt in Mittelberg jeden Morgen einen Schlauch in den Mund oder in die Nase geschoben. Damit wird bei ihm Magensäure rausgeholt. „Ich habe heute keinen ausgeprägt­en Würgerefle­x“, sagt er. „Ich kann die Zahnbürste bis ganz nach hinten durschiebe­n, ohne zu würgen. Heute weiß ich, dass man mithilfe der Magensäure Tuberkulos­e testen kann.“Als Kind wusste er das nicht. Warum er diese morgendlic­he Prozedur machen musste, es wurde ihm nicht gesagt.

Zu Hause legte sich Schmitz nur mittags hin, wenn er müde war. Ihn Mittelberg ist das anders. Es gibt einen Schlafzwan­g zur Mittagszei­t, die Kinder liegen auf Metallbett­en

in einem großen Raum, müssen die Augen zumachen, dürfen nicht reden, sich nicht bewegen, natürlich auch nicht auf Toilette gehen. „Wenn man sich widersetzt hat, ging die Nonne raus und nahm einen mit in den Nebenraum. Eine Kopfnuss war da doch das Harmlosest­e“, sagt Schmitz.

Außerhalb der Kinderheil­stätte dürfen Schmitz und die Kinder sich nie alleine bewegen, mindestens eine Nonne ist immer dabei. Kontakt mit seinen Eltern gibt es kaum, ganz selten kann er telefonier­en. Sonst kann er Briefe schreiben. „Wir durften aber nicht schreiben, was wir wirklich erlebten. Uns wurde das vorgegeben. Briefe von zu Hause wurden geöffnet, es wurde zensiert“, sagt Schmitz.

Im Jahr 2021 bekommt Schmitz von seinem Vater den Brief einer Nonne, den sie seinen Eltern damals geschickt hatte. Dort steht unter anderem: „Wegen seiner Kurverläng­erung gab es bei ihm schon viele Tränen. Mir tut der Junge leid.“„Der ganze Brief ist voller Lügen. Da kriegst du das Würgen“, sagt Schmitz. „Es ist bis heute so, dass ich mich mit einer Nonne nie an einen Tisch setzen würde. Wenn Sie als Kind mal von einem Hund gebissen wurden, dann wechseln Sie die Straße, wenn Sie einen sehen. So ist das bei mir mit den Nonnen. Für mich war die Nonne die Ausgeburt des Teufels.“

Schmitz bekommt jeden Morgen nicht nur einen Schlauch in den Mund, er muss auch Medikament­e schlucken. Was genau das für Medikament­e waren, weiß er nicht. Heute weiß man: In manchen Verschicku­ngsheimen wurden Medikament­entests durchgefüh­rt. Die Kinderheil­stätte Mittelberg gab es auch schon während der Nazizeit, der damalige Oberarzt Georg Hensel experiment­ierte mit einem Tuberkulos­e-Impfstoff an Kindern, sechs der 13 Kinder verstarben, wie das Deutsche Ärzteblatt in einem Beitrag schreibt. Hensel war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Oberarzt in Mittelberg.

Im Juni 1969 fahren Schmitz Eltern wieder von Rumeln-Kaldenhaus­en in den Allgäu. Ihnen wird mitgeteilt, dass ihr Sohn Dietmar noch weiter in der Kinderheil­stätte bleiben soll. Doch sein Vater weigert sich. Nicht, weil er um das Wohlergehe­n seines Sohns besorgt ist. Sondern, weil er nicht noch einmal Urlaub nehmen will, um nach Bayern zu fahren. „Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf. Den Ärzten wurde damals nicht widersproc­hen. So war das damals“, sagt Schmitz.

Zurück in Nordrhein-Westfalen muss Schmitz das Schuljahr wiederhole­n. In den ersten Monaten ist er ein anderer Mensch als er vor der Kur war. „Ich wollte nicht raus zu meinen Freunden. Ich wollte nur im Haus bleiben, nicht spielen gehen. Vorher war ich ein aktiver Junge, immer draußen. Das war nach den sechs Monaten anders“, sagt Schmitz. Es braucht wieder gut sechs Monate, bis Schmitz wieder der Junge ist, der er war, bevor er verschickt wurde. Der Weezer ist nicht das einzige Verschicku­ngskind, das von seinen Erfahrunge­n erzählt. Auf der Website verschicku­ngsheime.de berichten andere von ihren Erfahrunge­n.

Schmitz wird erwachsen, er heiratet, bekommt zwei Töchter. In den Osterferie­n fährt die Familie oft in den Allgäu in den Urlaub, zum Skifahren.

Er erzählt seiner Frau, er sei dort in der Nähe zur Kur gewesen. Die Familie fährt drei Mal nach Mittelberg. Zwei Mal schafft es Schmitz nicht, die große Eingangstr­eppe hochzugehe­n, die Familie dreht um. Beim dritten Mal hat er einen Termin, geht kurz in die Klinik – und dreht auch wieder um. „Ich wusste sofort, das geht nicht“, sagt er.

Trotzdem dauert es noch mehrere Jahre, bis sich Schmitz mit dem beschäftig­t, was er als Kind erlebt hat. Im Job geht er schnell an die Decke, kann sich schwer an neue Situatione­n anpassen. Eine Therapeuti­n diagnostiz­iert ihm eine Anpassungs­störung. Sie sagt Schmitz: „Wenn Sie das als Kind nicht erlebt hätten, würden wir uns über ihre Anpassungs­störung nicht unterhalte­n“. Er versucht, das Buch „Akte Verschicku­ngskinder“zu lesen und schafft zehn Seiten. Er merkt: Das habe ich auch erlebt.

Jetzt hat Schmitz ein Buch geschriebe­n „Abgegeben in fremde Hände - warum gerade ich? Ein Verschicku­ngskind alleine unterwegs“heißt es. Am Montag, 13. April, liest er von 18 bis 21 Uhr aus dem Buch im evangelisc­hen Gemeindeha­us in Weeze. Heute leitet Schmitz die Bayern-Gruppe der Verschicku­ngskinder mit vier anderen Betroffene­n, ist auch in der NRW-Gruppe vernetzt, bemüht sich um Aufklärung.

Als Schmitz selber Kinder bekommt, ist ihm eines sofort klar: Er würde sie niemals alleine auf Kur schicken.

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FOTO: PRÜMEN Dietmar Schmitz wurde als Kind alleine auf Kur geschickt. Einziger Begleiter: sein Teddy.

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