Wenn die Kur zur Tortur wird
Im Nachkriegsdeutschland werden Millionen von Kindern alleine auf Kur verschickt. Viele erleben Grausamkeiten, deren Folgen sie bis heute begleiten. Dietmar Schmitz war über sechs Monate in einer Kinderheilstätte untergebracht. Der Weezer erzählt seine Ge
Nach elf Stunden, die der damals achtjährige Dietmar Schmitz still in einem Bett liegt, muss er zur Toilette. Schmitz ist nicht alleine, der Raum ist voller anderer Kinder. Er verlässt den Schlafraum, geht in den Flur – und wird von einer Nonne am Arm gepackt. So schildert Schmitz es heute. Die Nonne schleudert ihn zurück in den Raum. „Ich bin gegen Betten geknallt, die anderen Kinder sind aufgewacht“, erzählt Schmitz. Aufstehzeit ist um 8 Uhr, die Blase drückt aber schon gegen 7 Uhr. Schmitz macht sich in die Hose.
Die Nonne, die den Jungen ins Zimmer schleuderte, gehörte zum „Orden der Mallesdorfer Schwestern“. Dieser Orden tat in der Kinderheilstätte Mittelberg (Oy) im Allgäu ihren Dienst. Hierhin kam Schmitz, weil er Asthma hatte, er war dort zur Kur. Und erlebte Grausamkeiten, deren Folgen ihn bis heute begleiten. Schmitz ist ein Verschickungskind.
Schätzungsweise drei Millionen Kinder wurden nach dem Krieg zur Kur in Kinderheilstätten gebracht. Alleine, ohne Eltern, ohne Bezugsperson. Einige machten dort eine vielleicht wirklich sinnvolle Kur, kurierten ihre Krankheiten aus, erlebten nichts Schlimmes. Auch die Frau von Dietmar Schmitz, Marion Schmitz, wurde als Kind verschickt. Sie selbst habe keine Grausamkeiten erlebt, sagt sie. Andere Kinder wurden geschlagen, mussten Medikamente zu Testzwecken schlucken, wurden isoliert, erlitten psychische und körperliche Gewalt. Manche Kinder erlebten sexuellen Missbrauch. Alles im Namen der Gesundheit, vieles im Namen der Kirche, unter deren Trägerschaft ein großer Teil der Heime stand.
Schmitz war drei Jahre alt, als er das erste Mal alleine in den Zug gesetzt wurde. Es ging nach Borkum, zur Kur. Viel darüber wisse er nicht mehr. „Wir sind auf Borkum mit einer kleinen Bimmelbahn zum Heim gefahren. Und wir hatten alle Mützen auf. Mehr weiß ich nicht.“Seine Asthmaanfälle hören aber nach der ersten Kur nicht auf.
1968, Schmitz ist acht Jahre, wird
ihm wieder eine Verschickungskur verschrieben. „Ärzte waren damals die Herrgötter in Weiß. Denen wurde nicht widersprochen, mit ihnen wurde auch nicht diskutiert“, sagt Schmitz. Er wird zum Bahnhof in Rumeln-Kaldenhausen gebracht. Mit dabei hat er seinen Teddy, ein paar Klamotten. Andere Kinder sitzen mit in dem Zug, seine Eltern bleiben zurück. Das Ziel: Mittelberg im Allgäu. Nach vielen Stunden kommt Schmitz an, die Kinder werden mit einem Bus zur Kinderheilstätte gefahren. Dort begrüßen sie Nonnen. „Ich dachte damals noch, dass die Nonnen ja Frauen der Kirche und somit bestimmt nett sind“, sagt Schmitz. Er sollte sich irren.
Er und die anderen Kinder erlebten in Mittelberg eine Welt, in der Gehorsam das oberste Gebot ist. Und wer nicht gehorcht, wird bestraft. Schmitz schildert den Fall eines Jungen, der seinen Schrank nicht ordentlich einräumte. Die Nonne habe sich daraufhin den Jungen geschnappt und ihn an den Ohren zum Schrank gezogen. Er musste seine Klamotten noch einmal neu einräumen, dieses Mal ordentlich.
Viele Kinder gehen nach sechs
Wochen „Kur“nach Hause. Schmitz aber muss bleiben. Die Ärzte sagen seinen Eltern, dass bei ihm der Verdacht auf Tuberkulose vorliege. Letztendlich bleibt Schmitz von November 1968 bis Juli 1969 im Allgäu. Mehr als ein halbes Jahr. Ob man an Tuberkulose erkrankt war, lässt sich auch Jahrzehnte später mithilfe eines Tests feststellen. Schmitz machte als Erwachsener diesen Test. Ergebnis: Er hatte nie Tuberkulose.
Der achtjährige Schmitz bekommt in Mittelberg jeden Morgen einen Schlauch in den Mund oder in die Nase geschoben. Damit wird bei ihm Magensäure rausgeholt. „Ich habe heute keinen ausgeprägten Würgereflex“, sagt er. „Ich kann die Zahnbürste bis ganz nach hinten durschieben, ohne zu würgen. Heute weiß ich, dass man mithilfe der Magensäure Tuberkulose testen kann.“Als Kind wusste er das nicht. Warum er diese morgendliche Prozedur machen musste, es wurde ihm nicht gesagt.
Zu Hause legte sich Schmitz nur mittags hin, wenn er müde war. Ihn Mittelberg ist das anders. Es gibt einen Schlafzwang zur Mittagszeit, die Kinder liegen auf Metallbetten
in einem großen Raum, müssen die Augen zumachen, dürfen nicht reden, sich nicht bewegen, natürlich auch nicht auf Toilette gehen. „Wenn man sich widersetzt hat, ging die Nonne raus und nahm einen mit in den Nebenraum. Eine Kopfnuss war da doch das Harmloseste“, sagt Schmitz.
Außerhalb der Kinderheilstätte dürfen Schmitz und die Kinder sich nie alleine bewegen, mindestens eine Nonne ist immer dabei. Kontakt mit seinen Eltern gibt es kaum, ganz selten kann er telefonieren. Sonst kann er Briefe schreiben. „Wir durften aber nicht schreiben, was wir wirklich erlebten. Uns wurde das vorgegeben. Briefe von zu Hause wurden geöffnet, es wurde zensiert“, sagt Schmitz.
Im Jahr 2021 bekommt Schmitz von seinem Vater den Brief einer Nonne, den sie seinen Eltern damals geschickt hatte. Dort steht unter anderem: „Wegen seiner Kurverlängerung gab es bei ihm schon viele Tränen. Mir tut der Junge leid.“„Der ganze Brief ist voller Lügen. Da kriegst du das Würgen“, sagt Schmitz. „Es ist bis heute so, dass ich mich mit einer Nonne nie an einen Tisch setzen würde. Wenn Sie als Kind mal von einem Hund gebissen wurden, dann wechseln Sie die Straße, wenn Sie einen sehen. So ist das bei mir mit den Nonnen. Für mich war die Nonne die Ausgeburt des Teufels.“
Schmitz bekommt jeden Morgen nicht nur einen Schlauch in den Mund, er muss auch Medikamente schlucken. Was genau das für Medikamente waren, weiß er nicht. Heute weiß man: In manchen Verschickungsheimen wurden Medikamententests durchgeführt. Die Kinderheilstätte Mittelberg gab es auch schon während der Nazizeit, der damalige Oberarzt Georg Hensel experimentierte mit einem Tuberkulose-Impfstoff an Kindern, sechs der 13 Kinder verstarben, wie das Deutsche Ärzteblatt in einem Beitrag schreibt. Hensel war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Oberarzt in Mittelberg.
Im Juni 1969 fahren Schmitz Eltern wieder von Rumeln-Kaldenhausen in den Allgäu. Ihnen wird mitgeteilt, dass ihr Sohn Dietmar noch weiter in der Kinderheilstätte bleiben soll. Doch sein Vater weigert sich. Nicht, weil er um das Wohlergehen seines Sohns besorgt ist. Sondern, weil er nicht noch einmal Urlaub nehmen will, um nach Bayern zu fahren. „Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf. Den Ärzten wurde damals nicht widersprochen. So war das damals“, sagt Schmitz.
Zurück in Nordrhein-Westfalen muss Schmitz das Schuljahr wiederholen. In den ersten Monaten ist er ein anderer Mensch als er vor der Kur war. „Ich wollte nicht raus zu meinen Freunden. Ich wollte nur im Haus bleiben, nicht spielen gehen. Vorher war ich ein aktiver Junge, immer draußen. Das war nach den sechs Monaten anders“, sagt Schmitz. Es braucht wieder gut sechs Monate, bis Schmitz wieder der Junge ist, der er war, bevor er verschickt wurde. Der Weezer ist nicht das einzige Verschickungskind, das von seinen Erfahrungen erzählt. Auf der Website verschickungsheime.de berichten andere von ihren Erfahrungen.
Schmitz wird erwachsen, er heiratet, bekommt zwei Töchter. In den Osterferien fährt die Familie oft in den Allgäu in den Urlaub, zum Skifahren.
Er erzählt seiner Frau, er sei dort in der Nähe zur Kur gewesen. Die Familie fährt drei Mal nach Mittelberg. Zwei Mal schafft es Schmitz nicht, die große Eingangstreppe hochzugehen, die Familie dreht um. Beim dritten Mal hat er einen Termin, geht kurz in die Klinik – und dreht auch wieder um. „Ich wusste sofort, das geht nicht“, sagt er.
Trotzdem dauert es noch mehrere Jahre, bis sich Schmitz mit dem beschäftigt, was er als Kind erlebt hat. Im Job geht er schnell an die Decke, kann sich schwer an neue Situationen anpassen. Eine Therapeutin diagnostiziert ihm eine Anpassungsstörung. Sie sagt Schmitz: „Wenn Sie das als Kind nicht erlebt hätten, würden wir uns über ihre Anpassungsstörung nicht unterhalten“. Er versucht, das Buch „Akte Verschickungskinder“zu lesen und schafft zehn Seiten. Er merkt: Das habe ich auch erlebt.
Jetzt hat Schmitz ein Buch geschrieben „Abgegeben in fremde Hände - warum gerade ich? Ein Verschickungskind alleine unterwegs“heißt es. Am Montag, 13. April, liest er von 18 bis 21 Uhr aus dem Buch im evangelischen Gemeindehaus in Weeze. Heute leitet Schmitz die Bayern-Gruppe der Verschickungskinder mit vier anderen Betroffenen, ist auch in der NRW-Gruppe vernetzt, bemüht sich um Aufklärung.
Als Schmitz selber Kinder bekommt, ist ihm eines sofort klar: Er würde sie niemals alleine auf Kur schicken.