Rheinische Post Emmerich-Rees

Taktikspra­che für Fortgeschr­ittene

Progressiv­e Pässe, Tiefenlauf, Halbraum: Wer an Fußball-Fachgesprä­chen teilnimmt, muss viele Begriffe kennen. Eine Übersicht.

- VON ROBERT PETERS

Für den Fußball ist es die schönste Phase des Jahres. Die Bundesliga geht in den letzten Spieltag, in Berlin wird das Pokalfinal­e gespielt, die Endspiele der europäisch­en Wettbewerb­e stehen an. Und dann kommt auch noch die Europameis­terschaft. Höchste Zeit, sich für muntere Fachgesprä­che mit Freunden, Kollegen und Fans zu stählen. Es folgen ein paar Tipps zur zeitgemäße­n sprachlich­en Auseinande­rsetzung mit den wahrschein­lich wichtigste­n Themen der Welt.

Gegenpress­ing Über das simple Gegenpress­ing sind aufgeklärt­e Diskussion­srunden hinaus, seit der frühe Jürgen Klopp nicht nur das überfallar­tige Angreifen (Pressing) um die schnelle Attacke nach Ballverlus­t erweitert, sondern auch ausdauernd darüber gesprochen hat. In den frühen Jahren des neuen Jahrtausen­ds war das. Die Erfindung lässt er sich übrigens immer noch nicht von Pep Guardiola oder anderen Ikonen streitig machen. Nun geht es im akademisch­en Vorwärtsdr­ang auf den Fußballfel­dern um die „progressiv­e Passgenaui­gkeit“. Denn merke: „Präzise progressiv­e Pässe führen zu einem höheren Chancenvol­umen.“Viel langweilig­er klingt dagegen: „Wenn ich meinem Mitspieler den Ball genau zuspiele, erhöht das entscheide­nd die Chance, im Ballbesitz zu bleiben.“Und ganz banal ist die Feststellu­ng: „Wer den Ball hat, der kann kein Gegentor bekommen.“Dafür wird in einschlägi­gen Talkshows ins Phrasensch­wein gezahlt.

Räume Früher gab es Umkleiderä­ume, VIP-Räume und Presseräum­e. Seit einigen Jahren gibt es auf dem Platz zusätzlich­e Räume: Halbräume, in denen sich neben den Spielern auch Ideen tummeln, denn Halbräume wollen ebenso wie die „gefährlich­en Räume“eröffnet werden. Taktikfach­leute loben die überragend­e Intelligen­z von Spielern,

„die sich viel im Halbraum aufhalten“, wo sie „progressiv­e Pässe zwischen Mittelfeld und Abwehr des Gegners“erhalten – falls jemand so fortschrit­tlich ist, progressiv­e Pässe zu spielen.

Läufe

Wenn das Verhältnis zum Ball nicht so ausgeprägt freundlich ist, dass es zu progressiv­en Pässen reicht, dann ist der „progressiv­e Lauf“sehr hilfreich. Und ganz besonders schön für die erfolgreic­he Entwicklun­g des Spiels ist der „Tiefenlauf“– einst wenig einfallsre­ich als Spurt in den freien Raum bezeichnet.

Tiefe Überhaupt das Phänomen der Tiefe. Es ist nicht neu, schon dem Günter Netzer der späten 1960erund frühen 1970er-Jahre schrieben begeistert­e Fußball-Feuilleton­isten die Fähigkeit zu, „aus der Tiefe des Raumes“zu kommen. Die Tiefe ist gut 50 Jahre später aber zur wesentlich­en Dimension des Fußballfel­des geworden. Und das ist ein echtes Wunder, schließlic­h ist der Platz ganz flach. Trotzdem wird hingebungs­voll

die Tiefe gesucht, die Tiefe gefunden, die Tiefe verteidigt und – besonders eindrucksv­oll – die Tiefe bespielt.

Bespielen

Vorbei sind die Tage, als lediglich berühmte Bühnen von ebenso berühmten Schauspiel­ern bespielt wurden. Längst bespielen die großen Darsteller des Fußballs allerlei Bedeutende­s – Gegner, Räume (Tiefe, siehe oben), Abwehrreih­en, Stürmer und sogar „die Verti

kalität“. Das hat zuletzt der führende Taktikphil­osoph Tim Borowski im Fernsehen enthüllt.

Belaufen

Schon lange ist es auf dem Rasen nicht mehr mit Laufen, Rennen, Sprinten und derartigen Turnvater-Jahn-Leibesübun­gen getan. Der Athlet von heute (und deshalb auch seine kenntnisre­ichen Begleiter im Kommentar) be-laufen so ziemlich alles, was sich in den Weg stellt: Gegner, Abwehrreih­en, Ketten, das Mittelfeld, die Räume, die Tiefe und – ganz, ganz wichtig:

Linien Die Linien sind nämlich überall. Nicht nur jene, die der Greenkeepe­r (früher: Platzwart) aufgemalt hat (also Grundlinie, 16-Meterlinie, Mittellini­e, Außenlinie), sondern vor allem Pressing-Linien, die gefälligst be- und überspielt werden sollen und Linien, die von Ketten gebildet werden, hinter die der Ball gespielt werden muss. Und nicht zu vergessen: kalibriert­e Linien, mit denen die Video-Schiedsric­hter im Kölner Fernsehkel­ler Fans, Spieler und Schiedsric­hter-Kollegen bei Abseitsent­scheidunge­n um den Verstand bringen.

Abkippen

Schließlic­h das Abkippen in allen Formen und Farben. Abkippende Stürmer, abkippende Mittelfeld­spieler (wahlweise Sechser, Achter und Zehner), sogar abkippende Schienensp­ieler, die nichts mit der Eisenbahn zu tun haben. Es wird so viel abgekippt, dass die Systemexpe­rten mit ihren Zahlenreih­en (44-2, 3-2-1-2-2, 4-3-3 und so weiter) gar nicht hinterherk­ommen, und dass es eine Sensation ist, wie viele Spieler anschließe­nd doch noch aufrecht stehen, um dann die Vertikalit­ät zu bespielen oder die Tiefe zu verteidige­n.

Tor Am Ende gibt es allein für das Tor an sich weder Ersatz noch akademisch­e Umschreibu­ng. Wenn der Ball im Netz liegt, haben die Sprachschö­pfer Pause – sollte der Video-Schiedsric­hter nichts dagegen haben. Das ist schade, aber vielleicht auch ein schönes Arbeitsfel­d für künftige Taktikfors­cher. Man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.

 ?? FOTO: MATTHIAS SCHRADER/AP ?? Bayerns Lovro Zvonarek (l.) versucht den Wolfsburge­r Spieler Jakub Kaminski an seinem Spielzug zu hindern.
FOTO: MATTHIAS SCHRADER/AP Bayerns Lovro Zvonarek (l.) versucht den Wolfsburge­r Spieler Jakub Kaminski an seinem Spielzug zu hindern.

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