Taktiksprache für Fortgeschrittene
Progressive Pässe, Tiefenlauf, Halbraum: Wer an Fußball-Fachgesprächen teilnimmt, muss viele Begriffe kennen. Eine Übersicht.
Für den Fußball ist es die schönste Phase des Jahres. Die Bundesliga geht in den letzten Spieltag, in Berlin wird das Pokalfinale gespielt, die Endspiele der europäischen Wettbewerbe stehen an. Und dann kommt auch noch die Europameisterschaft. Höchste Zeit, sich für muntere Fachgespräche mit Freunden, Kollegen und Fans zu stählen. Es folgen ein paar Tipps zur zeitgemäßen sprachlichen Auseinandersetzung mit den wahrscheinlich wichtigsten Themen der Welt.
Gegenpressing Über das simple Gegenpressing sind aufgeklärte Diskussionsrunden hinaus, seit der frühe Jürgen Klopp nicht nur das überfallartige Angreifen (Pressing) um die schnelle Attacke nach Ballverlust erweitert, sondern auch ausdauernd darüber gesprochen hat. In den frühen Jahren des neuen Jahrtausends war das. Die Erfindung lässt er sich übrigens immer noch nicht von Pep Guardiola oder anderen Ikonen streitig machen. Nun geht es im akademischen Vorwärtsdrang auf den Fußballfeldern um die „progressive Passgenauigkeit“. Denn merke: „Präzise progressive Pässe führen zu einem höheren Chancenvolumen.“Viel langweiliger klingt dagegen: „Wenn ich meinem Mitspieler den Ball genau zuspiele, erhöht das entscheidend die Chance, im Ballbesitz zu bleiben.“Und ganz banal ist die Feststellung: „Wer den Ball hat, der kann kein Gegentor bekommen.“Dafür wird in einschlägigen Talkshows ins Phrasenschwein gezahlt.
Räume Früher gab es Umkleideräume, VIP-Räume und Presseräume. Seit einigen Jahren gibt es auf dem Platz zusätzliche Räume: Halbräume, in denen sich neben den Spielern auch Ideen tummeln, denn Halbräume wollen ebenso wie die „gefährlichen Räume“eröffnet werden. Taktikfachleute loben die überragende Intelligenz von Spielern,
„die sich viel im Halbraum aufhalten“, wo sie „progressive Pässe zwischen Mittelfeld und Abwehr des Gegners“erhalten – falls jemand so fortschrittlich ist, progressive Pässe zu spielen.
Läufe
Wenn das Verhältnis zum Ball nicht so ausgeprägt freundlich ist, dass es zu progressiven Pässen reicht, dann ist der „progressive Lauf“sehr hilfreich. Und ganz besonders schön für die erfolgreiche Entwicklung des Spiels ist der „Tiefenlauf“– einst wenig einfallsreich als Spurt in den freien Raum bezeichnet.
Tiefe Überhaupt das Phänomen der Tiefe. Es ist nicht neu, schon dem Günter Netzer der späten 1960erund frühen 1970er-Jahre schrieben begeisterte Fußball-Feuilletonisten die Fähigkeit zu, „aus der Tiefe des Raumes“zu kommen. Die Tiefe ist gut 50 Jahre später aber zur wesentlichen Dimension des Fußballfeldes geworden. Und das ist ein echtes Wunder, schließlich ist der Platz ganz flach. Trotzdem wird hingebungsvoll
die Tiefe gesucht, die Tiefe gefunden, die Tiefe verteidigt und – besonders eindrucksvoll – die Tiefe bespielt.
Bespielen
Vorbei sind die Tage, als lediglich berühmte Bühnen von ebenso berühmten Schauspielern bespielt wurden. Längst bespielen die großen Darsteller des Fußballs allerlei Bedeutendes – Gegner, Räume (Tiefe, siehe oben), Abwehrreihen, Stürmer und sogar „die Verti
kalität“. Das hat zuletzt der führende Taktikphilosoph Tim Borowski im Fernsehen enthüllt.
Belaufen
Schon lange ist es auf dem Rasen nicht mehr mit Laufen, Rennen, Sprinten und derartigen Turnvater-Jahn-Leibesübungen getan. Der Athlet von heute (und deshalb auch seine kenntnisreichen Begleiter im Kommentar) be-laufen so ziemlich alles, was sich in den Weg stellt: Gegner, Abwehrreihen, Ketten, das Mittelfeld, die Räume, die Tiefe und – ganz, ganz wichtig:
Linien Die Linien sind nämlich überall. Nicht nur jene, die der Greenkeeper (früher: Platzwart) aufgemalt hat (also Grundlinie, 16-Meterlinie, Mittellinie, Außenlinie), sondern vor allem Pressing-Linien, die gefälligst be- und überspielt werden sollen und Linien, die von Ketten gebildet werden, hinter die der Ball gespielt werden muss. Und nicht zu vergessen: kalibrierte Linien, mit denen die Video-Schiedsrichter im Kölner Fernsehkeller Fans, Spieler und Schiedsrichter-Kollegen bei Abseitsentscheidungen um den Verstand bringen.
Abkippen
Schließlich das Abkippen in allen Formen und Farben. Abkippende Stürmer, abkippende Mittelfeldspieler (wahlweise Sechser, Achter und Zehner), sogar abkippende Schienenspieler, die nichts mit der Eisenbahn zu tun haben. Es wird so viel abgekippt, dass die Systemexperten mit ihren Zahlenreihen (44-2, 3-2-1-2-2, 4-3-3 und so weiter) gar nicht hinterherkommen, und dass es eine Sensation ist, wie viele Spieler anschließend doch noch aufrecht stehen, um dann die Vertikalität zu bespielen oder die Tiefe zu verteidigen.
Tor Am Ende gibt es allein für das Tor an sich weder Ersatz noch akademische Umschreibung. Wenn der Ball im Netz liegt, haben die Sprachschöpfer Pause – sollte der Video-Schiedsrichter nichts dagegen haben. Das ist schade, aber vielleicht auch ein schönes Arbeitsfeld für künftige Taktikforscher. Man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.