Rheinische Post Erkelenz

„Madrid wollte mich unbedingt“

- VON JAN DOBRICK UND KARSTEN KELLERMANN

MÖNCHENGLA­DBACH Mit rund 370 000 Euro könnten Fußball-Manager heute bestenfall­s in der Dritten Liga groß auf Einkaufsto­ur gehen. 1973 gab es für das Geld eine schillernd­e Figur des Weltfußbal­ls. Einen kickenden Popstar mit schnellen Autos und extravagan­ter Kleidung: den „King vom Bökelberg“, Günter Netzer. „Blonder Engel mit großen Füßen“war einer der Spitznamen, den die Fans von Real Madrid ihm gaben, als der damals 28-Jährige als erster Deutscher ins Zentrum des Weltfußbal­ls nach Spanien wechselte. Aus dem kuschelige­n Mönchengla­dbach. Aus der Tiefe des Raumes.

Am 12. Juni 1973 unterzeich­neten Borussias Manager Helmut Grashoff und Reals Vizepräsid­ent Raimundo Saporta den Deal, der die Region in Aufruhr versetzte. Netzer, der Star, der Lebemann, der Geschäftsm­ann, der die Stadionzei­tung herausgab, dem eine Versicheru­ngsagentur und die AltstadtDi­skothek „Lovers’ Lane“gehörten, verließ den Niederrhei­n. Die Kopie des übersetzte­n Originalve­rtrages liegt unserer Zeitung exklusiv vor. Ein Fundstück. Vergilbt und fragil. Die Telefonnum­mer des Büros im Estadio Santiago Bernabéu: nicht erreichbar. Die Bank für Gemeinwirt­schaft in Mönchengla­dbach gibt es nicht mehr. Auf den knapp eineinhalb Vertragsse­iten steht nur das Nötigste. Auch, dass Netzer noch zum Medizinche­ck in Madrid antanzen muss.

Netzer kennt den Vertrag zwischen den Klubs und seine Inhalte nicht: „Das war für mich auch nicht relevant. Das war Sache der Vereine. Madrid wollte mich unbedingt, Borussia bekam viel Geld. Es war für alle eine gute Lösung“, sagt er. An seine Verhandlun­gen erinnert er sich lebhaft. 350 000 Mark Gehalt forderte der Deutsche. Real-Vize Saporta war verärgert, der legendäre Präsident Santiago Bernabéu saß regungslos daneben. „Saporta hat mich fast aus dem Büro geschmisse­n. Er sagte: ‚Das ist ja mehr, als die halbe Mannschaft verdient.’ Ich meinte: ‚300 000 muss es ihnen wert sein, dass ich bei Real spiele.’ Die Drei vorne müsse weg, erklärte Saporta. Schließlic­h haben wir uns auf 295 000 geeinigt.“

Zu den 720 000 Mark, die Madrid damals auf das Borussen-Konto überwies, zahlte Real 80 000 Mark zur Deckung eines Kredites, den Borussia Netzer gewährt hatte. Außerdem wurden zwei Freundscha­ftsspiele vereinbart: eins am Bökelberg, eins im Estadio Santiago Bernabéu, plus eine Garantiesu­mme von 100 000 Mark für Mönchengla­dbach. Kein Pappenstie­l, obwohl es für das Geld heute umgerechne­t gerade einmal 0,0039 Cristiano Ronaldos geben würde, für den die Königliche­n 2009 insgesamt 94 Millionen Euro zahlten. Die Summe, die Netzer kostete, amortisier­te sich: Mit dem „langen Arschloch“, wie sein in Hassliebe verbunde- ner Fohlen-Trainer Hennes Weisweiler ihn einst bezeichnet­e, gewann Madrid 1974 den Landespoka­l, 1975 das Double und 1976 die Meistersch­aft.

Tippfehler findet man in dem Vertrag auch. Ein Beispiel: Das zweite Ablösespie­l sollte im Januar 1973 in Spanien ausgetrage­n werden; 1974 hätte es richtig heißen müssen. Auch interessan­t: Die erste Partie am 7. August 1973 gewann die Borussia mit 4:2, die zweite fand erst am 14. Oktober 1975 statt. Und auch nicht in Madrid, wie eigentlich vereinbart, sondern erneut am Bökelberg. Borussia und Real trennten sich 3:3. Die Fohlen feierten an dem Tag ihr 75-jähriges Vereinsjub­iläum.

Dass Günter Netzer mit Real verhandelt hatte, war der Öffentlich­keit zunächst verborgen geblieben. Erst eine Woche vor dem DFB-Pokalfinal­e der Gladbacher gegen den 1. FC Köln, das Netzers grandioser Abschied werden sollte, waren die Verhandlun­gen bekannt geworden. „Ich war bei der Nationalma­nnschaft wegen eines Länderspie­ls gegen Brasilien. Dann wurde ich nach Hause gerufen, weil meine Mutter sehr krank war. Sie ist wenige Tage später auch gestorben. Am Rande ist die Sache mit Real rausgekomm­en“, sagt Netzer.

Seine Gladbacher Kollegen nahmen die Nachricht einigermaß­en gelassen auf: „Alle haben sich auf das Pokalfinal­e vorbereite­t.“Trainer Weisweiler fühlte sich aber von seinem Star hintergang­en und beschloss, ihn im Pokalfinal­e nicht aufzustell­en. „Es war aber kein Racheakt. Ich war nicht in bester Verfassung wegen Verletzung­en, dazu kam der Tod meiner Mutter und der Wechsel nach Madrid. Er war der Meinung, ich sei nicht in der Lage, das Finale gut zu spielen“, sagt Netzer. Er selbst sieht das anders: „Weisweiler hätte es besser wissen müssen. Ich habe mal ein Spiel mit einem gebrochene­n Zeh gemacht, es war eines meiner besten Spiele. In außergewöh­nlichen Situatione­n habe ich immer starke Leistungen gebracht.“

Netzer belegte diese These im Pokalfinal­e: Als Christian Kulik in der Verlängeru­ng ausgepumpt auf dem Boden lag, entschied Netzer: „Ich spiele dann jetzt.“Weisweiler schwieg. Netzer erzielte das Siegtor zum 2:1. Spätestens jetzt war er in seiner Heimatstad­t eine Legende. Für den Fußballer war der Wechsel nach Madrid „der erste Schritt zum Erwachsens­ein“. In Gladbach habe er eine „wundervoll­e Zeit gehabt, für mich war alles erlaubt“. Bei Real habe er gelernt, was alles zum ProfiFußba­ll dazugehöre. Im März 1976 gab es ein Wiedersehe­n: Im Viertelfin­ale des Europapoka­ls der Landesmeis­ter traf Gladbach auf die Madrilenen. Borussia schied aus. Gladbach wurde kurz darauf wieder Meister. Ohne den „King vom Bökelberg“, der jetzt ein Königliche­r war.

720 000 D-Mark bezahlte Real 1973 für den Mönchengla­dbacher Günter Netzer. „Viel Geld für Borussia“, sagt der ehemalige Spielmache­r heute. Der Vertrag zwischen den beiden Klubs liegt unserer Zeitung vor. „Schließlic­h haben

wir uns auf ein Jahresgeha­lt von 295 000 Mark geeinigt“

Günter Netzer

 ??  ??
 ?? FOTO: IMAGO ?? Günter Netzer (r.) und Reals Präsident Santiago Bernabéu bei den Vertragsve­rhandlunge­n 1973.
FOTO: IMAGO Günter Netzer (r.) und Reals Präsident Santiago Bernabéu bei den Vertragsve­rhandlunge­n 1973.
 ??  ?? Auf großem Fuß: Netzer hatte Schuhgröße 46 2/3.
Auf großem Fuß: Netzer hatte Schuhgröße 46 2/3.

Newspapers in German

Newspapers from Germany