„Madrid wollte mich unbedingt“
MÖNCHENGLADBACH Mit rund 370 000 Euro könnten Fußball-Manager heute bestenfalls in der Dritten Liga groß auf Einkaufstour gehen. 1973 gab es für das Geld eine schillernde Figur des Weltfußballs. Einen kickenden Popstar mit schnellen Autos und extravaganter Kleidung: den „King vom Bökelberg“, Günter Netzer. „Blonder Engel mit großen Füßen“war einer der Spitznamen, den die Fans von Real Madrid ihm gaben, als der damals 28-Jährige als erster Deutscher ins Zentrum des Weltfußballs nach Spanien wechselte. Aus dem kuscheligen Mönchengladbach. Aus der Tiefe des Raumes.
Am 12. Juni 1973 unterzeichneten Borussias Manager Helmut Grashoff und Reals Vizepräsident Raimundo Saporta den Deal, der die Region in Aufruhr versetzte. Netzer, der Star, der Lebemann, der Geschäftsmann, der die Stadionzeitung herausgab, dem eine Versicherungsagentur und die AltstadtDiskothek „Lovers’ Lane“gehörten, verließ den Niederrhein. Die Kopie des übersetzten Originalvertrages liegt unserer Zeitung exklusiv vor. Ein Fundstück. Vergilbt und fragil. Die Telefonnummer des Büros im Estadio Santiago Bernabéu: nicht erreichbar. Die Bank für Gemeinwirtschaft in Mönchengladbach gibt es nicht mehr. Auf den knapp eineinhalb Vertragsseiten steht nur das Nötigste. Auch, dass Netzer noch zum Medizincheck in Madrid antanzen muss.
Netzer kennt den Vertrag zwischen den Klubs und seine Inhalte nicht: „Das war für mich auch nicht relevant. Das war Sache der Vereine. Madrid wollte mich unbedingt, Borussia bekam viel Geld. Es war für alle eine gute Lösung“, sagt er. An seine Verhandlungen erinnert er sich lebhaft. 350 000 Mark Gehalt forderte der Deutsche. Real-Vize Saporta war verärgert, der legendäre Präsident Santiago Bernabéu saß regungslos daneben. „Saporta hat mich fast aus dem Büro geschmissen. Er sagte: ‚Das ist ja mehr, als die halbe Mannschaft verdient.’ Ich meinte: ‚300 000 muss es ihnen wert sein, dass ich bei Real spiele.’ Die Drei vorne müsse weg, erklärte Saporta. Schließlich haben wir uns auf 295 000 geeinigt.“
Zu den 720 000 Mark, die Madrid damals auf das Borussen-Konto überwies, zahlte Real 80 000 Mark zur Deckung eines Kredites, den Borussia Netzer gewährt hatte. Außerdem wurden zwei Freundschaftsspiele vereinbart: eins am Bökelberg, eins im Estadio Santiago Bernabéu, plus eine Garantiesumme von 100 000 Mark für Mönchengladbach. Kein Pappenstiel, obwohl es für das Geld heute umgerechnet gerade einmal 0,0039 Cristiano Ronaldos geben würde, für den die Königlichen 2009 insgesamt 94 Millionen Euro zahlten. Die Summe, die Netzer kostete, amortisierte sich: Mit dem „langen Arschloch“, wie sein in Hassliebe verbunde- ner Fohlen-Trainer Hennes Weisweiler ihn einst bezeichnete, gewann Madrid 1974 den Landespokal, 1975 das Double und 1976 die Meisterschaft.
Tippfehler findet man in dem Vertrag auch. Ein Beispiel: Das zweite Ablösespiel sollte im Januar 1973 in Spanien ausgetragen werden; 1974 hätte es richtig heißen müssen. Auch interessant: Die erste Partie am 7. August 1973 gewann die Borussia mit 4:2, die zweite fand erst am 14. Oktober 1975 statt. Und auch nicht in Madrid, wie eigentlich vereinbart, sondern erneut am Bökelberg. Borussia und Real trennten sich 3:3. Die Fohlen feierten an dem Tag ihr 75-jähriges Vereinsjubiläum.
Dass Günter Netzer mit Real verhandelt hatte, war der Öffentlichkeit zunächst verborgen geblieben. Erst eine Woche vor dem DFB-Pokalfinale der Gladbacher gegen den 1. FC Köln, das Netzers grandioser Abschied werden sollte, waren die Verhandlungen bekannt geworden. „Ich war bei der Nationalmannschaft wegen eines Länderspiels gegen Brasilien. Dann wurde ich nach Hause gerufen, weil meine Mutter sehr krank war. Sie ist wenige Tage später auch gestorben. Am Rande ist die Sache mit Real rausgekommen“, sagt Netzer.
Seine Gladbacher Kollegen nahmen die Nachricht einigermaßen gelassen auf: „Alle haben sich auf das Pokalfinale vorbereitet.“Trainer Weisweiler fühlte sich aber von seinem Star hintergangen und beschloss, ihn im Pokalfinale nicht aufzustellen. „Es war aber kein Racheakt. Ich war nicht in bester Verfassung wegen Verletzungen, dazu kam der Tod meiner Mutter und der Wechsel nach Madrid. Er war der Meinung, ich sei nicht in der Lage, das Finale gut zu spielen“, sagt Netzer. Er selbst sieht das anders: „Weisweiler hätte es besser wissen müssen. Ich habe mal ein Spiel mit einem gebrochenen Zeh gemacht, es war eines meiner besten Spiele. In außergewöhnlichen Situationen habe ich immer starke Leistungen gebracht.“
Netzer belegte diese These im Pokalfinale: Als Christian Kulik in der Verlängerung ausgepumpt auf dem Boden lag, entschied Netzer: „Ich spiele dann jetzt.“Weisweiler schwieg. Netzer erzielte das Siegtor zum 2:1. Spätestens jetzt war er in seiner Heimatstadt eine Legende. Für den Fußballer war der Wechsel nach Madrid „der erste Schritt zum Erwachsensein“. In Gladbach habe er eine „wundervolle Zeit gehabt, für mich war alles erlaubt“. Bei Real habe er gelernt, was alles zum ProfiFußball dazugehöre. Im März 1976 gab es ein Wiedersehen: Im Viertelfinale des Europapokals der Landesmeister traf Gladbach auf die Madrilenen. Borussia schied aus. Gladbach wurde kurz darauf wieder Meister. Ohne den „King vom Bökelberg“, der jetzt ein Königlicher war.
720 000 D-Mark bezahlte Real 1973 für den Mönchengladbacher Günter Netzer. „Viel Geld für Borussia“, sagt der ehemalige Spielmacher heute. Der Vertrag zwischen den beiden Klubs liegt unserer Zeitung vor. „Schließlich haben
wir uns auf ein Jahresgehalt von 295 000 Mark geeinigt“
Günter Netzer