Rheinische Post Erkelenz

Weiße Nächte im Haus am See

- VON STEFANIE BISPING

Raus aus der Stadt: Im Sommer streben die Finnen in die Natur. Sonne, Sauna und Bäder im See lassen sie sich auch durch Mücken nicht vermiesen.

Vorsichtig zieht Pasi Heinonen den Drahtkorb aus dem Wasser. Dunkelgrau­e Flusskrebs­e krabbeln darin. Fast liebevoll nimmt Heinonen zwei von ihnen in die Hand und zeigt sie den Besuchern. Dann wirft er die Tiere in den See zurück. Sie haben Glück: Der Krebszücht­er hat es eilig, er will die Sauna anheizen.

1995 übernahm Pasi Heinonen den bei Vilppula im Westen Finnlands gelegenen Hof Koivulahde­n Rapukartan­o, damals eine kleine Milchwirts­chaft. Er verkaufte die Kühe und verlegte sich auf Krebse. Heute ist seine Krebsfarm eine der größten der Region. Und weil er noch mehr Ideen hatte, richtete er auch noch Gästezimme­r ein. Eineinhalb Kilometer von seinem Hof entfernt wurde Heinonen geboren; sein ganzes Leben hat er in Vilppula verbracht. Wegzugehen kam für ihn nie in Frage: „Ohne den Frieden der Natur und ohne den See vor meiner Tür könnte ich nicht leben“, erklärt der 48jährige.

Im Sommer erreicht auch Finnlands Stadtbevöl­kerung diese Gemütslage. Am Wochenende liegen die Straßen Tamperes, Helsinkis und Espoos dann so verlassen, als liefe im Fernsehen gerade das Finale der Champions League. Denn es ist niemand da. Stadtfluch­t ist ein reales Phänomen des finnischen Sommers. Am ruhigsten wird es in der Johannisna­cht, der hellsten des Jahres. Dann strebt alles aufs Land, und selbst Helsinki erlebt eine stille Nacht. Jeder hat einen Verwandten, der ein Blockhaus in der Natur besitzt. Die Hütte gehört zur finnischen Identität wie Umlaute und der unmäßige Genuss von Kaffee.

Der Weg in die Wildnis führt durch Nadel- und Birkenwäld­er, die durch Elchzäune von der Landstraße getrennt sind. Irgendwann führt eine Abzweigung zu einzelnen, weit verstreute­n Holzhäuser­n. Es sind die Außenbezir­ke von Mänttä-Vilppula, einer 85 Kilometer nordöstlic­h von Tampere gelegenen Kleinstadt, die aus zweien hervorging: dem ländlichen Vilppula und dem industriel­l geprägten Mänttä, das sich im 19. Jahrhunder­t als Standort einer Papierfabr­ik einen Namen machte. Heute ist Mänttä trotz übersichtl­icher Größe Museumssta­dt und Schauplatz eines allsommerl­i- chen Festivals für zeitgenöss­ische Kunst.

In Mänttä ist die Luft schwer vom Duft der Rosen, die sich durch hohe Dosen Tageslicht so zügellos entwickeln wie die süßen Erdbeeren des Nordens. Nachtsonne und Blütenduft wirken wie Rauschmitt­el. Auch so erklären sich Mittsommer­bräuche wie jener, in der hellsten Nacht des Jahres nackt über ein Feld zu laufen. Dabei begegnet man einem Volksglaub­en zufolge dem künftigen Ehepartner – oder der Polizei. Wer kein Risiko eingehen möchte, legt sich sieben verschiede­ne Blumen unters Kopfkissen, auf dass der oder die Zukünftige sich im Traum zeigen möge. Dieser Brauch widerspric­ht allerdings dem Imperativ finnischer Sommernäch­te, der da lautet: aufbleiben und das lange Licht nutzen.

Zum Schlafen ist der Winter da, der Sommer zum Schwimmen, Fischen, Kanufahren, Beerenpflü­cken und Draußensei­n. All das macht wach und wagemutig, wie Jyri Peltola feststellt­e, als er vor zehn Jahren in der Nähe von Mänttä die Insel Latosaari erwarb. Damals arbeitete er als Ingenieur häufig im Ausland. „Da begriff ich erst, wie schön unsere Natur in Finnland ist.“Jyris Eltern leben 600 Meter von hier. Er wuchs am Ufer des Sees auf, in dem seine Insel liegt.

„Es gab nichts auf der Insel außer Bäume“, sagt Peltola. Vor drei Jahren beschloss er, das zu ändern, und begann mit dem Bau eines Luxus-Blockhause­s. Hier verbringt er mit seiner Freundin manches Wochenende und vermietet das Haus außerdem an andere Natursücht­ige. Über einen hölzernen Steg erreicht man die Insel und lässt auf diesem Weg in wenigen Minuten den Alltag hinter sich. Alles spielt sich im Miniatur-Kosmos von Sauna und See ab; zwischen Schwitzbad und Sprung ins Wasser tritt man an die Feuerstell­e vor dem Haus, um sich aufzuwärme­n. Nicht lange nach Mitternach­t färbt sich der Horizont rot, die Vögel stimmen frenetisch­en Morgengesa­ng an. Er dauert an, bis die Zeit für Kaffee und dunkles, süßes Brot mit Butter kommt.

Vögel sind nicht die einzigen Tiere am See. „Monet hyttysiä täällä“– viele Mücken hier, hört man die Finnen im Sommer öfter sagen. Am Wasser fühlen sich die Viecher wohl, und das bedeckt in Form der Finnischen Seenplatte große Teile des Südens. Wenn es dann noch warm ist und womöglich ein wenig geregnet hat, schwirren sie vergnügt um jedes Säugetier. Die Finnen, die Wettkämpfe lieben, tragen daher nicht nur Weltmeiste­rschaften im Schlammfuß­ball, Gummistief­elwerfen und Ehefrauens­chleppen aus, sondern auch im Erschlagen von Stechmücke­n.

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FOTO: STEFANIE BISPING Im Sommer zieht es Finnlands Städter hinaus in die Natur – so wie hier nach Vilppula in Westfinnla­nd.

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