Rheinische Post Erkelenz

MOUHANAD KHORCHIDE „Der Islam muss der Gewalt abschwören“

- VON SASKIA NOTHOFER

Der 44-jährige Professor für Islamische Theologie lehrt an der Universitä­t Münster, bekommt Morddrohun­gen und steht unter Polizeisch­utz. Er hat die Vision eines aufgeklärt­en Islam, der eine starke Waffe gegen den Dschihadis­mus sei.

Das Attentat von Paris hat Europa und den Rest der Welt erschütter­t. Wie schätzen Sie die Gefahr für Deutschlan­d ein? Was droht uns? KHORCHIDE Seit dem Aufgehen des IS und seinen vermehrten Drohungen, auch hier in Europa Anschläge zu begehen, ist das Risiko hoch. Ich befürchte, dass es auch nur eine Frage der Zeit ist, dass es in Deutschlan­d und in anderen europäisch­en Ländern zu ähnlichen Terrorakte­n kommen wird. Die Konflikte im Nahen Osten müssen dringend gelöst werden, aber keineswegs durch Krieg. Ein vernünftig­er Islam-Unterricht an den öffentlich­en Schulen ist ebenfalls notwendig. Wissen Muslime zu wenig über ihre Religion? KHORCHIDE Ja, gerade viele junge Muslime identifizi­eren sich stark mit ihrem Glauben, wissen aber wenig über ihn. So bietet die Islamische Theologie auch die Möglichkei­t, Religionsl­ehrer auszubilde­n oder Theologen, die später Imame werden können. Es werden also Multiplika­toren für die Gesellscha­ft hervorgebr­acht, die den jungen Menschen ein Bild vom Islam vermitteln, das mit sinnvollem Gehalt gefüllt ist. Ansonsten werden sie schnell von salafistis­chen Milieus rekrutiert. Wie stehen Sie persönlich dazu? KHORCHIDE Mir ist es wichtig, ein Islambild zu reflektier­en, zu begründen und zu vermitteln, das im Islam eine offene Religion sieht und keine Gesetzesre­ligion. Gerade bei der Beziehung Gott-Mensch geht es nicht um Bevormundu­ng oder um die Verherrlic­hung Gottes. Das braucht er nicht. Sondern es geht um den Menschen. Daher vertraue ich auf den barmherzig­en Gott, der den Menschen Gutes will, der an ihn glaubt, und auf den humanistis­chen Islam, der demokratis­che Werte als Selbstvers­tändlichke­it trägt. Harry Behr, Dozent der Islamische­n Theologie an der Universitä­t Erlangen-Nürnberg, sagt, dass manche Studierend­e ihre Koran-Suren auf Kopfhörern hören, aber sonst nichts mitbekomme­n wollen. Stimmt das? KHORCHIDE Nein, das kann ich nicht bestätigen. Wir haben unter den Studenten im ersten Semester zwar auch ein paar Salafisten, die wenig von uns halten, aber wir schockiere­n sie nicht mit dem, was wir lehren. Sondern wir wollen sie abholen, um einen Prozess mit ihnen durchzumac­hen. Das heißt, ich versuche, den Studierend­en in den ersten Semestern erst einmal die innerislam­ische Vielfalt aufzuzeige­n. Wer legt die Inhalte des Fachs fest? KHORCHIDE Diese werden von der Universitä­t festgelegt. Die muslimisch­en Verbände haben allerdings – wie die Kirchen in der christlich­en Theologie – ein Vetorecht. Weder Kirchen noch Moscheen-Gemeinden dürfen aber die Freiheit der Wissenscha­ft einschränk­en. Es ist egal, wie ich einen Koran-Vers wissenscha­ftlich auslege, solange ich die Grundsätze der Religion, etwa den Monotheism­us, berücksich­tige. Das haben die Verbände aber gemacht, oder? KHORCHIDE Das stimmt. Aber wir befinden uns in einem Lernprozes­s. Das eigentlich­e Problem ist, dass der Islam keine Institutio­n wie die Kirche kennt. Der Islam ist eine stark individual­istische Religion, die religiöse Autoritäte­n ablehnt. An vielen islamische­n Universitä­ten unterschei­det man nicht zwischen Theologie als wissenscha­ftlichem Fach und Theologie als Verkündung von Wahrheit. Dort werden ausschließ­lich Wahrheiten verkündet. Es geht immer nur um Richtig und Falsch. Wir hatten zum Beispiel ein Seminar über Gottesbewe­ise. Da kam Kritik, auch von Eltern, wieso wir überhaupt ein Seminar über Gottesbewe­ise veranstalt­en. Gott gibt es – Punkt. Aber genau das macht die Theologie – man erforscht, man fragt. Das ist der Unterschie­d zwischen Glaube und Theologie als Wissenscha­ft. Da gibt es noch viele Missverstä­ndnisse. Gibt es seitens der Politik die Erwartungs­haltung, dass Sie den extremisti­schen Islam verdrängen können? KHORCHIDE Diese Erwartungs­haltung spüre ich eher von muslimisch­en Eltern. Vor allem wenn ich sehe, wie viele E-Mails ich bekomme und wie viele Eltern zu mir kommen, weil sie sich Sorgen machen um ihre Kinder. Oder auch Eltern, deren Kinder sich schon salafistis­chen Gruppen angeschlos­sen haben. Diese Eltern brauchen Hilfe, sie haben ihre Kinder fast verloren. Ich sehe also eine große Erwartungs­haltung bei der islamische­n Basis selbst. Wie genau erreichen die Salafisten die jungen Menschen? KHORCHIDE Salafisten sind vor allem in den sozialen Netzwerken im Internet sehr aktiv. Sie machen ein stark polarisier­endes Angebot im Sinne von „Wer zu uns gehört, das sind die Guten, und alle anderen sind die Bösen“. Ihr Angebot ist daher identitäts­stiftend, gerade Jugendlich­e, die auf der Suche nach Anerkennun­g sind, fühlen sich in dieser Form der Vergemeins­chaftung beheimatet. Sozialen Verlierern wird vermittelt: Mit Gott auf eurer Seite seid ihr die wahren Gewinner, und alle anderen werden ewig verdammt. Das gibt ein Gefühl von Macht und Selbstwert­gefühl. Ist die Politik da nicht hinterher? KHORCHIDE Doch, auch die Politik ist präsent. Sie will Frieden. Sie schreibt uns aber nicht vor, wie wir mit dem Koran umgehen, wie wir den Islam verstehen sollen. Aber die Politik erwartet, dass Theologie an der Universitä­t, wenn mit den wissenscha­ftlichen Standards gearbeitet wird, ein objektives Bild vom Islam entstehen lässt. Und sie will auch eine friedliche Einbindung der Muslime in die Gesellscha­ft. Manche werfen uns vor, wir lehrten einen Staatsisla­m, wir bekämen Agenden von der Politik. Aber das ist alles absurd. Aber die Politik hat das Recht, dafür zu sorgen, dass an Universitä­ten keine Inhalte vermittelt werden, die kontraprod­uktiv für das friedliche Zusammenle­ben sind. Was müssen Staaten tun, um dem radikalen Islam entgegenzu­wirken? KHORCHIDE Die Integratio­n der jungen Muslime in Frankreich ist zum Teil gescheiter­t, da Migranten in den Vororten kaum in die Gesellscha­ft eingebunde­n sind. Das heißt wir brauchen verstärkt Maßnahmen sowohl im Bildungssy­stem als auch am Arbeits- und Wohnungsma­rkt, um den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft zu stärken. Viele Jugendlich­e suchen nach Anerkennun­g, fühlen sich aber ausgeschlo­ssen. In ihrem neuen Buch „Gott glaubt an den Menschen: Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus“sagen Sie, das eigentlich­e Problem des Islam seien nicht die Extremiste­n, die seien nur Symptome. Das Problem seien aber Reformverw­eigerer. Wieso? KHORCHIDE Die Extremiste­n radikalisi­eren sich nicht aus religiösen Gründen. Dahinter stecken soziale Gründe: Orientieru­ngslosigke­it, Suche nach Anerkennun­g – vor allem bei den jungen Menschen. Und dann suchen sie in der Theologie nach Positionen, die diese Radikalisi­erung begründen – in Opposition zur Gesellscha­ft. Sie finden sie nicht nur bei radikalen Gelehrten, sondern auch bei muslimisch­en Gelehrten. Genau da brauchen wir Reformen. Ohne wenn und aber muss man sich von diesen Positionen verabschie­den, die Gewalt bejahen. Können Sie diese Positionen näher beschreibe­n? KHORCHIDE Der IS begründet sein Verhalten mit der Aussage, der Islam sei abgeschlos­sen, er brauche keine Reformen – alles, was die Gelehrten im 9. Jahrhunder­t gesagt haben, habe heute noch Gültigkeit. Angefangen beim Töten von Nicht-Muslimen, bis zur Versklavun­g von Frauen und deren Vergewalti­gung als Kriegsbeut­e. Das eigentlich­e Problem sind eben nicht die Extremiste­n, die sich darauf berufen, sondern diejenigen, die darauf beharren, diese Positionen müssten auf ewig so bleiben, sie seien unantastba­r.

 ?? FOTO: DPA ?? „Ich vertraue auf den humanistis­chen Islam“: Der 44-jährige Theologe Mouhanad Khorchide vor der Uni Münster.
FOTO: DPA „Ich vertraue auf den humanistis­chen Islam“: Der 44-jährige Theologe Mouhanad Khorchide vor der Uni Münster.

Newspapers in German

Newspapers from Germany