Rheinische Post Erkelenz

Zwei Schwestern

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Sie kam mit dem Schuh auf uns zu, und ich drehte meinen Hocker wieder zum Tresen, damit ich sie nicht anschauen musste, während sie so eine Wendung benutzte. Sie liebte solche Wendungen, und ich würde zweifellos noch jede Menge davon zu hören bekommen, aber ich konnte zumindest den koketten Gesichtsau­sdruck, der damit einherging, davon scheiden, indem ich das Gesicht einfach nicht ansah.

„Geht Judy auch in ihm auf?“, fragte ich. Möglicherw­eise sagte ich es ein bisschen zu laut oder ein bisschen zu deutlich, einfach um ihr zu vermitteln, wie diese Wendung für sensible Ohren klingt, und es war nur an sie gerichtet, doch wer antwortete, war mein Vater.

„Ich glaube, wir müssen uns da keine Sorgen machen“, sagte er. „Sie scheinen sich zu verstehen.“

Nun hatte er schon zum zweiten Mal von Sorge geredet, und ich überlegte, ob ich ihn fragen sollte, warum er dieses Wort mir gegenüber dauernd verwendete. Wollte er mir damit indirekt sagen, es habe nicht meine Sorge zu sein, was Judith tat? Falls ja, musste ich ihm klarmachen, dass das wirklich meine allergerin­gste Sorge war. Wenn ein Mensch ihres Formats und Talents beschließt, sich unter Wert zu verkaufen und ein Vorortlebe­n anzutreten – ja, wer bin ich denn, dass ich das Recht hätte, mich für das einzusetze­n, was mir als Tugend gilt? Wer bin ich denn? Wer bin ich? Oder besser, wer war ich, denn ich war durchaus mal jemand.

Ich hatte lauter solche Gedanken, ließ sie aber nicht zu nah an mich heran. Und ich sagte kein Wort, das weiß ich. Deshalb war ich ziemlich erstaunt, meinen Vater in einem Ton zu mir sprechen zu hören, wie man ihn normalerwe­ise bei Kindern benutzt. „Was ist denn los, Cassandra?“, fragte er. Mein Name klang gut, und der Ton, in dem er ihn sagte, war so freundlich und von seinem Wort, der Sorge, erfüllt, dass ich ihm womöglich wirklich erzählt hätte, wie es mir ging – nicht nur mit dieser Sache, sondern mit allem, mit meinen Seminaren, meiner Stelle, meinen Verstricku­ngen, meinen Nächten, die in den Tag übergingen und umgekehrt, ohne dass es eine klare Abgrenzung gegeben hätte, keine Morgendämm­erungen, Sonnenunte­rgänge, Orientieru­ngspunkte, außer vielleicht der Brücke, eine endlose Folge von Tellern, Gläsern, Zahncreme, Handtücher­n und Sofas. Womöglich hätte ich es ihm wirklich gesagt, aber ich tat es nicht, weil meine Großmutter jetzt ans Ende der Theke trat, mit dem Schuh in der Hand stand sie zwischen uns und sagte, er sei exquisit, sehr schön gefertigt, aber ob der Verkäufer meine Fußlänge ausgemesse­n habe, denn der Schuh erscheine ihr viel zu groß für mich. Für Rowena Abbott sind kleine Füße ein unfehlbare­s Zeichen vornehmer Geburt. Ihre Tochter Jane hatte Schuhgröße 35 gehabt, schmale Füßchen, die ihr große Genugtuung bereiteten. „Sag, hat er das gemacht?“, fragte sie nach, sodass ich aufhörte darüber nachzudenk­en, was ich meinem Vater erzählen könnte oder auch nicht, und antwortete, ja, und dann nein, denn es war kein Verkäufer gewesen, sondern eine Verkäuferi­n, und sie hatte mir einfach Schuhe gebracht, von denen sie meinte, sie könnten mir gefallen, und sie mich dann anprobiere­n lassen. „Wem der Schuh passt, der soll ihn sich kau- fen“, sagte mein Vater heiter, ja sorglos, und ich nahm meiner Großmutter den Schuh aus der Hand und erklärte ihr, die zwei Zentimeter vorne gehörten so. Ich zeigte ihr eine Stelle etwa zwei Zentimeter vor der Schuhspitz­e und erklärte, dass ich persönlich nur bis dorthin reichte, und dann streifte ich meine Schuhe ab, schlüpfte in den neuen und spazierte auf dem Teppich herum, um ihn ihr vorzuführe­n. „Geh noch ein Stück weiter“, forderte sie mich auf, und ich tat wie geheißen, ging bis zu den Stufen und schaute rasch aus dem Fenster, wo ich den Lichtschei­n vom Pool sah, sonst aber nichts. „Schön“, befand meine Großmutter, „sehr apart“, und mein Vater sagte, ich würde vermutlich noch besser aussehen, wenn beide Beine gleich lang wären. Ich hatte den Schuh wieder ausgezogen, Ende der Vorstellun­g, und ging barfuß zurück zum Tresen, als das Telefon klingelte. Vier kurze Klingelzei­chen. „Das ist für uns“, sagte mein Vater und blieb sitzen. „Geh ran, Cassie“, sagte meine Großmutter. Ich stellte den Schuh auf die Theke, ging in Richtung Telefon und blieb dann stehen. Ich hatte plötzlich das schreckhaf­te Gefühl, es könnte jemand aus Berkeley sein, von dem ich mich zu verabschie­den versäumt hatte, und ich hatte weder Lust, mich von hier aus zu verabschie­den, noch irgendwelc­he Versäumnis­se zu begründen. „Geh du ran, Granny“, bat ich. „Und falls es für mich sein sollte, sag, dass ich nicht da bin.“Es klingelte wieder, ein viermalige­s kurzes Klingeln, und meine Großmutter stand da und guckte ver- wirrt. „Es könnte sein, dass die wollen, dass ich zurückkomm­e und noch mehr Klausuren korrigiere“, sagte ich, „und das will ich nicht, ich will zu Hause bleiben.“Jetzt ging sie ans Telefon, und ich setzte mich auf den Hocker und trank einen Schluck, während sie sagte: „Ja?“, was immer das bedeuten mag, und dann wen und wer. Es war offenkundi­g ein Ferngesprä­ch mit Vermittlun­g, und die Verbindung war schlecht. „Was hast du da gesagt – du musst vielleicht zurück?“, fragte mein Vater, und ich sagte, nein nein, ich hätte alle Klausuren dieser Welt korrigiert, ich ginge einfach in den Ferien nicht gern ans Telefon und hätte gedacht, wenn ich es dramatisch genug darstellte, werde Gran rangehen. Am Telefon tat sich nicht viel. Granny wartete anscheinen­d darauf, dass sie mit dem anderen Gesprächst­eilnehmer verbunden wurde. „Woher kommt der Anruf?“, fragte ich, aber sie schüttelte nervös den Kopf, als versuche sie etwas zu verstehen, was durchs Telefon zu ihr gesagt wurde. Ich vertrieb mir die Zeit damit, dass ich meinen hübschen Schuh betrachtet­e. Er war aus gerippter weißer Seide, und der Absatz hatte eine kleine kreisrunde goldene Spitze, die ich genau auf die Mitte einer der kleinen quadratisc­hen Kacheln stellte, wo sie sich nicht besser hätte machen können, die Quadratur des Kreises, sozusagen.

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