Vielleicht mag ich dich morgen
Annas Freundin hingegen wirkte eher desinteressiert und kramte in einer Tüte Weingummis. Laurence hatte seine pseudointellektuelle konzentrierte Miene aufgesetzt und das Kinn in die Hand gestützt. Und Anna . . . Schmunzelte Anna etwa? Offenbar spürte sie seinen Blick, denn sie drehte sich zu ihm um. James erwiderte ihr Lächeln. Als sich James diskret eine imaginäre Pistole in den Mund steckte und abdrückte, verwandelte sich das Schmunzeln in ein breites Grinsen. Er wandte sich wieder in Richtung Bühne und fühlte sich gleich viel besser.
„Was ist schon wahr an der Liebe?“Dylan Kelly schlenderte in den Lichtkegel eines Scheinwerfers und richtete seine Worte ans Publikum. Das Stück ruckelte ächzend auf sein Ende zu, die bahnbrechende Erkenntnis, dass man alle Menschen und das Leben an sich in die Tonne treten konnte.
„Die Liebe ist eine Droge. Sie ist wie Opium, ein Schmerzmittel, um die Einsamkeit des menschlichen Daseins zu lindern. Und wie alle Schmerzmittel betäubt sie die Sinne. Wir finden einen anderen Menschen, verlieren uns dabei selbst und nennen das dann Liebe.“
Ach, halt das Maul und zieh endlich eine Hose an.
Das hat mich sehr nachdenklich gemacht“, stellte Laurence fest.
„Ja, nachdenklich darüber, was das für eine Scheiße war“, entgegnete James.
Anna wusste, dass James in seinem Urteil gnadenlos sein konnte. Doch sie musste zugeben, dass sein Einwand etwas für sich hatte.
„Hat es dir denn nicht gefallen?“, fragte Laurence in einem Tonfall, der klang, als spräche er am Telefon.
„Seit meinem letzten Flug mit Ryanair war ich nicht mehr so genervt von einem Iren, der seine Mitmenschen arschglatt bescheißt.“
Michelle lachte dreckig, und James grinste sie an. Anna freute sich, dass die beiden sich verstanden. Aggy hingegen schien so nervös, dass sie noch mehr Müll redete als sonst, so dass James sie manchmal nur verständnislos anstarrte.
Laurence hatte vorgeschlagen, nach der Vorstellung einen trinken zu gehen. Sie landeten in einem überfüllten Touristenpub in Covent Garden – Bleiglasfenster, lackierte Holzflächen in der Farbe der Londoner Busse und polierte Messingbeschläge. Der Alkohol war warm und wurde in trüben Gläsern serviert.
„Ich verrate euch, was ich daraus gelernt habe. Dylan Kelly hat ein Riesending“, verkündete Michelle.
James und Laurence verzogen das Gesicht.
„Das lag nur an der Wärme im Saal“, murmelte Laurence.
„Aber er war einfach traumhaft“, sagte Aggy und fächelte sich mit ihrem Programm Kühlung zu.
„Findest du wirklich?“, erkundigte sich James aufrichtig interessiert.
Normalerweise hätte Aggy auf so eine Frage mit hysterischem Gequietsche reagiert. Doch sie nuschelte nur etwas und nickte wortlos. Anna traute ihren Augen nicht. James Fraser besaß tatsächlich die Macht, ihre Schwester zum Schweigen zu bringen. Allerdings entstand daraus eine etwas verlegene Gesprächspause.
„Für mich sah er aus wie ein perverser Dachdecker, der grundlos seine Rechnung hochtreibt, mit der Frau des Hauses flirtet und einem die Kekse für besondere Gelegenheiten wegfuttert.“Anna lachte zwar, doch es jagte ihr auch einen Schauder den Rücken hinunter, dass James so ein Snob war. Dachdecker? Ihr zukünftiger Schwager war auch Handwerker. Einen anständigen Beruf zu haben bedeutete nicht zwangsläufig, dass man dabei an einem Schreibtisch saß. Du definierst dich wohl über dein MacBook Air. Als Michelle Aggy fragte, ob sie mit ihr kurz eine rauchen gehen wolle, war Anna ein wenig erleichtert.
„Wie fandest du das Stück?“, wollte Laurence von Anna wissen. Als er sie über den Rand seiner Brille hinweg musterte, erhärtete sich ihr Verdacht, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte.
„Hmmm.“Anna neigte den Kopf zur Seite. „Es war ein wenig . . . Es eierte um die großen Erkenntnisse im Leben herum und lieferte sie dann nicht. Ich meine, warum ist er zu dieser Galeristin, dieser Eloise, zurückgegangen, obwohl die ihn behandelt hat wie einen Fußabstreifer?“
„Weil wir alle Masochisten sind?“, antwortete James mit einem traurigen Auflachen.
„Aber was war so toll an ihr? Die Frau war eiskalt.“
„Manchmal steht man eben gerade auf die Frauen, die einem am übelsten mitspielen.“
„Okay, wenn man zweiundzwanzig ist. Doch die Figur in dem Stück soll Mitte dreißig sein. Ich glaube, dass es irgendwann Rückschlüsse auf einen selbst zulässt, wenn man sein Leben lang einen Eiszapfen im Push-up-BH anschmachtet.“Sie sah James an, der verbissen in Richtung Jukebox starrte. Ein wenig verspätet befiel Anna die Ahnung, dass er die Bemerkung auf seine eigene Situation beziehen könnte. Aller- dings war sie seiner Ex nie begegnet. Warum also sollte er es persönlich nehmen?
„Wisst ihr, irgendwann kommt der Punkt, an dem Unsympathen mit aktivem Sexleben eben nur Unsympathen mit aktivem Sexleben sind. Ich sehe keinen Grund, warum ich mich für ihr Schicksal interessieren sollte“, beendete Anna ihre Ausführungen.
„Da stimme ich voll und ganz zu“, verkündete James.
„Ich würde gern so etwas schreiben, nur besser“, meinte Laurence nachdenklich.
„Hahaha.“James’ Stimmung hob sich schlagartig. „Darüber, wie man jede Menge Frauen aufreißt? Zu Hause in allen Betten. Frei nach Phantasien von Laurence O’Grady.“
Laurence blieb ernst und wirkte sogar sauer.
„Du könntest was schreiben wie dieser Oberaufreißer Neil Strauss, der Die perfekte Masche verfasst hat. Eine Version, die in einem britischen Badeort spielt.“
„Du brauchst mich nicht als vollkommen oberflächlich hinzustellen. Auch ich betreibe Nabelschau.“
„Schon, aber ich glaube, damit ist gemeint, dass man sich seinen eigenen Nabel anschaut“, entgegnete James, und Anna lachte, trotz Laurence’ offensichtlichen Missvergnügens.
James’ Telefon läutete. Anna versuchte, sich auf das Gespräch mit Laurence zu konzentrieren, statt die unüberhörbar gereizte Debatte zu belauschen.
„Nun, woher sollte meine Mum das wissen . . . mal im Ernst,
(Fortsetzung folgt)