Die Webfehler des deutschen Asylsystems
Nach der Bluttat von Hamburg stellen sich die Fragen nach den Verantwortlichkeiten neu – mit unbefriedigenden Antworten.
BERLIN Als die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde, war die Bedeutung des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes noch in frischer Erinnerung. Verfolgte, die wegen ihrer politischen Meinung, ihrer Religion, ihrer Rasse oder ihrer sexuellen Orientierung ins Ausland geflohen waren, mahnten nach ihren Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus, dass sich die Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes zwingend in einem schrankenlosen Asylrecht niederschlagen müsse. Über Jahrzehnte war das in der Praxis sozusagen nebenbei zu stemmen – angesichts von 1900 bis 4500 Asylanträgen jährlich. Für ein 60 Millionen-Volk kein Problem. Das Mengen-Problem 1969 überstieg die Zahl der Asylanträge erstmals die 10.000er-Grenze, fiel danach aber im folgenden halben Jahrzehnt wieder in die Vierstelligkeit. Die Balkankriege lösten eine Fluchtwelle aus, die 1992 die Zahlen auf 440.000 Anträge hochschnellen ließ. Nach dem Asylkompromiss sanken sie jedoch kontinuierlich wieder auf die Größenordnung von 30.000 Flüchtlingen pro Jahr. Darauf wurden die Kapazitäten bei der Antragsbearbeitung, bei der Unterbringung und bei der Betreuung ausgerichtet. Als sich die Zahl der Flüchtlinge 2015 in Richtung eine Million entwickelte und die Zahl der Anträge auf 480.000 stieg, 2016 wegen Abarbeitung der alten Anträge gar auf 750.000, musste das System überlastet in die Knie gehen. Aufnahme kam vor Identifizierung. Folge war die Wahrnehmung eines „Kontrollverlustes“. Das Rechtsweg-Problem Asylspezialisten sehen sechs Monate als die Frist, in der sich die meisten zwischen Gehen oder Bleiben entscheiden. Die Bindungen sind noch locker, und wer dann seine Ablehnung mitsamt Ausreiseaufforderung in der Hand hat, neigt zum Verlassen des Landes. Wer aber schon ein oder zwei Jahre Wartezeit hinter sich hat, bevor er seinen Antrag stellen kann und seinen Bescheid erhält, hat sich an das neue Land gewöhnt. Das Grundrecht auf Asyl und Flüchtlingsschutz ist nicht an Kontingente gebunden, sondern an die Überprüfung jedes Einzelfalls. Um die früher rund 30.000 Flüchtlinge hatte sich ein Netz von Rechtsanwälten entwickelt, das oft genug selbst aus Ablehnungen Dul- Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, werden an zentralen Stellen registriert, in der Regel in Erstaufnahmeeinrichtungen. Dabei werden Personaldaten erfasst, ein Fingerabdruck sowie ein Foto gemacht. (nach Art. 16a Grundgesetz) Politisch verfolgt ist, wem nach seiner Rückkehr schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
sonstige Verfahrenserledigungen*
abgelehnt (nach Genfer Flüchtlingskonvention) Flüchtling ist, wer begründete Sorge vor Verfolgung durch den Staat oder nichtstaatliche Gruppen haben muss.
2177 Asyl Erstes Halbjahr 2017 Insgesamt: 408.147 dungen und irgendwann Bleiberechte machte. Das Prinzip funktioniert aber nicht mehr, wenn es um Hunderttausende jährlich geht. Das Grenzen-Problem Die Öffnung der Binnengrenzen im Schengen-Vertrag stellt kein Problem dar, solange die Außengrenzen penibelst kontrolliert werden und ein verteilungsgerechtes EUAsylrecht existiert. Beides befindet sich aber erst im Aufbau. Das muss jeder bedenken, der keinen mehr ohne Papiere ins Land lassen und Asylbewerber in ihre EU-Ankunfts- Hier erfolgt ein Medizincheck, dann warten die Flüchtlinge bis zu drei Monate auf die Registrierung und Verteilung. Jeder Einrichtung ist eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zugeordnet; dort stellen sie in der Regel den Asylantrag. Ziel ist, das Verfahren schon dort abzuschließen und abgelehnte Asylbewerber von dort zurückzuschicken. (nach dem Asylverfahrensgesetz) Kann statt Asyl oder Flüchtlingsschutz gewährt werden, wenn im Heimatland Krieg herrscht oder nach der Rückkehr andere Gefahren drohen.
Flüchtlinge subsidiärer Schutz Abschiebungsverbot länder zurückschicken will: Die Grenzen sind offen. Kontrollen sind ausnahmsweise möglich, aber nicht die Regel. Täglich passieren Millionen Menschen Deutschlands Grenzen, unkontrolliert. Auch diejenigen ohne Pass. Wenn sie sich melden oder aufgegriffen werden, sind sie bereits mitten im Zuständigkeitsgeflecht und nicht mehr vor der Einreise. Das Zuständigkeits-Problem Die Bearbeitung der Asylanträge ist Sache des Bundes, der Schutz vor Gefährdern unter den Flüchtlingen Von der Erstaufnahmeeinrichtung kommen Asylbewerber für bis zu acht Wochen in Zentrale Unterbringungseinrichtungen der Länder. Von dort kommen sie in Wohnungen, Wohnheime oder Container der Kommunen. Wer keinen Anspruch auf eine der Schutzformen hat, muss binnen 30 Tagen ausreisen oder wird abgeschoben. ist Sache der Länder, die Entscheidung über Ausweisungen fällen die Ausländerämter in den Kreisen oder kreisfreien Städten, und die Unterbringung regeln die Kommunen. Das muss zu Chaos führen, solange alle am Verfahren Beteiligten keine einheitlichen Daten haben und sich nicht permanent abstimmen. Seit dem vergangenen Jahr läuft das besser, aber es gibt immer noch Lücken. Probleme sind programmiert, wenn Behörden in ihrem Handeln aufeinander angewiesen sind. Vor allem dann, wenn die Verantwortlichen politisch unterschiedliche Asylbewerber werden zu einer Anhörung in eine Bamf-Außenstelle geladen. Mithilfe eines Dolmetschers werden Lebenslauf und Fluchtgründe erörtert. Ein Bamf-Mitarbeiter beurteilt die Glaubwürdigkeit, die Entscheidung erfolgt schriftlich. (nach dem Aufenthaltsgesetz) Wenn keine der vorherigen Schutzformen gewährt wird, kann trotzdem auf Abschiebung verzichtet werden, etwa wegen einer Krankheit oder wegen der Menschenrechtssituation. Überzeugungen zum Umgang mit Flüchtlingen haben. Das Europa-Problem Es gibt die Verträge von Schengen und Dublin, aber es gibt kein einheitliches EU-Asylrecht mit Durchgriffsrechten. Wenn Staaten die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, sie vertragswidrig durchwinken und auch nicht im verabredeten Umfang zurücknehmen, ist jedes Mal auch Deutschland betroffen. Vertragsverletzungsverfahren laufen, möglicherweise entsteht im September Bewegung. Die Abschiebung wird vorübergehend ausgesetzt, weil sie nicht möglich oder der Asylbewerber nicht reisefähig ist. Das Rückführ-Problem 160.000 Antragstellern wurde im ersten Halbjahr der Schutz abgesprochen, aber nur 12.500 wurden abgeschoben. Der Gesetzgeber stopft zwar Schlupflöcher (strengere Gesundheitsatteste, keine AbschiebeAnkündigung), aber es bleiben Hindernisse. Jeder Auszufliegende braucht Personaldokumente, aber nicht jedes Herkunftsland erteilt die. Und da die Ausländerämter die Rückführung anordnen, die Länder sie durchführen und der Bund nur unterstützt, gibt es auch hier Zuständigkeitsprobleme.