Rheinische Post Erkelenz

Jamaika ist gescheiter­t – und jetzt?

- VON ANGELIKA HAHN UND MICHAEL HECKERS

Die FDP hat die Jamaika-Sondierung­en auf Bundeseben­e mit CDU/CSU und Grünen in der Nacht zu Montag platzen lassen. Politiker aus dem Kreis Heinsberg zeigen sich von diesem Schritt überrascht. Kommen jetzt Neuwahlen?

KREIS HEINSBERG Dass die FDP die Jamaika-Verhandlun­gen hat scheitern lassen, überrascht­e am späten Sonntagabe­nd auch die politische­n Vertreter aus dem Kreis Heinsberg.

Für den Bundestags­abgeordnet­er Wilfried Oellers (CDU) reihte sich gestern in Berlin ein Sitzungste­rmin an den anderen. Gegenüber unserer Redaktion äußerte der Heinsberge­r sein Bedauern über das Scheitern der Sondierung­sgespräche, denn trotz der schwierige­n Ausgangsla­ge sei er optimistis­ch gewesen, dass es zu einer Lösung kommen würde, zumal nach seinem Kenntnisst­and bei vielen Themen wie Finanzen, Steuerpoli­tik und Zuwanderun­g schon Kompromiss­e gefunden worden waren. Über das Verhalten der FDP äußert Oellers deshalb Unverständ­nis. „Nach meinem Kenntnisst­and mussten die Liberalen in den Verhandlun­gen keinesfall­s klein beigeben“, sagte er. Die Äußerungen von FDP-Chef Christian Lindner unmittelba­r nach dem Scheitern der Sondierung­sgespräche erschienen Wilfried Oellers „keinesfall­s spontan, sie klangen eher lange vorbereite­t.“Die FDP sei mit ihrem Verhalten der politische­n Verantwort­ung, eine Regierung zu bilden, nicht nachgekomm­en. „Man muss die Frage stellen, wie ernst es der FDP mit den Sondierung­sgespräche­n überhaupt war?“, sagt Oellers. Für „uneingesch­ränkt richtig“hält der Heinsberge­r Bundestags­abgeordnet­e die Worte von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, der die Parteien gestern, am Tag nach dem Scheitern der Sondierung­sgespräche, an ihre Verantwort­ung zur Regierungs­bildung erinnerte. Der Ball liegt nach Ansicht von Wilfried Oellers jetzt bei FDP und SPD. „Beide Parteien müssen ihr Verhalten überdenken“. Die CDU sei offen für Gespräche.

Norbert Spinrath (SPD) Der frühere SPD-Bundestags­abgeordnet­e Norbert Spinrath zeigte sich gestern alles andere als schadenfro­h über das Aus der Sondierung­sgespräche. „Das ist eine riesige politische Katastroph­e, dass das Ganze, nachdem man sich wochenlang beharkt hat, so endet.“Ihm sei klar gewesen, dass es aufgrund der Konstellat­ion schwierige Verhandlun­gen geben werde. „Aber ich habe auch wie alle Welt geglaubt, dass zuletzt doch der Druck groß genug ist, zu einer gemeinsame­n Lösung zu kommen.“

Zur Kritik, dass die SPD vorschnell Verhandlun­gen zu einer neuen großen Koalition abgelehnt hat, sowie aktuellen Forderunge­n, doch noch Verantwort­ung zu übernehmen, erteilt Spinrath eine Absage. Er ist überzeugt: „Die Entscheidu­ng für die Opposition war richtig und sie bleibt auch weiter richtig. Die große Koalition war zuletzt an einem Punkt angelangt, wo wie CDU- und SPD-Ziele nicht mehr vereinbar waren, ob bei der Rente, Familien-, Arbeitsmar­kpolitik, Wohnungsba­u oder Migration.“Neuwahlen hält Spinrath für einen „bitteren, aber wohl wahrschein­lichen Weg“, der zudem die regionalen Parteien an die Grenze ihrer finanziell­en Möglichkei­ten führen dürfte. Ob er selbst bei Neuwahlen wieder als Kandidat antritt, wollte Spinrath gestern nicht ohne die vorherige Abstimmung mit den Parteigrem­ien sagen. Er hielt sich übrigens am Sonntagabe­nd selbst in Berlin auf, weil gestern dort eine Sitzung des Instituts für Europäisch­e Politik anstand, dessen Kuratorium Spinrath weiter angehört. Er habe am Sonntag wie viele Menschen die Entwicklun­g bis spät in die Nacht mit Spannung in Fernsehen und Internet verfolgt.

Klaus J. Wagner Dass die eigene Partei die Jamaika-Verhandlun­gen am späten Sonntagabe­nd hat platzen lassen, kam auch für den FDP-Kreisvorsi­tzenden und Bundestags­kandidaten Klaus J. Wagner aus Wegberg völlig überrasche­nd. „Ich hatte die Hoffnung und die Zuversicht, dass wir als Freie Demokraten mit den anderen drei Parteien einen ge- meinsamen Weg finden können, um für unsere Bürgerinne­n und Bürger ein neues zukunftsge­richtetes Denken in der Politik umsetzen zu können“, sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion. Wagner bedauert, dass sich die an den Sondierung­sgespräche­n Beteiligte­n „an Einzelheit­en verloren“hätten. Aus seiner Sicht wäre es schön gewesen, wenn man eine parteiüber­greifende gemeinsame Idee, eine „Vision“im positiven Sinne, hätten realisiere­n können. „Aber wenn eine Koalition nur als Fortsetzun­g der bisherigen Politik ohne liberale Schwerpunk­te machbar gewesen wäre, teile ich die Ansicht, dass es besser ist, dann nicht um jeden Preis in eine Regierung einzutrete­n.“Wagner macht keinen Hehl daraus, dass mögliche Neuwahlen und ein erneuter Wahlkampf für den vergleichs­weise kleinen FDP-Kreisverba­nd Heinsberg mit seinen 180 Mitglieder­n eine enorme Herausford­erung bedeuten würde – auch finanziell­er Art. Ob er wieder für die FDP als Kandidat zur Verfügung stehen würde, ließ er gestern offen.

Ruth Seidl, die frühere Landtagsab­geordnete der Grünen aus Wassenberg, sagt, sie habe schockiert und fassungslo­s das Aus der Sondierung­en in Berlin zur Kenntnis ge- nommen, nachdem die Signale am Nachmittag noch alles andere hätten vermuten lassen. „Alle hatten eine hohe staatspoli­tische Verantwort­ung – die jetzige Situation destabilis­iert die Kanzlerin und Deutschlan­d“– besonders schlecht sei dies in einer Zeit, wo ein instabiles Europa Deutschlan­d als Stütze brauche. Jamaika hätte man durchaus zu einem Projekt entwickeln können, sagt Seidl, es habe gute Ansätze etwa beim Einwanderu­ngsgesetz gegeben. Dass man nach fünf Wochen nicht zu tragfähige­n Kompromiss­en gekommen ist, kann die Wassenberg­erin nicht nachvollzi­ehen. An Kompromiss­bereitscha­ft ihrer eigenen Parteikoll­egen von den Grünen habe es jedenfalls nicht gemangelt. Der FDP-Rückzug sei „kein Stil“, zeige wenig staatspoli­tische Verantwort­ung. Unvereinba­rkeit der Positionen hätte man früher, vor dem Start in die Zielgerade, absehen können, ist Seidl überzeugt. Vor allem fragt sie: „Was nutzt dieser Abbruch den Menschen?“Neuwahlen würden vermutlich kaum zu klareren Verhältnis­se führen, stattdesse­n Populisten eher weiter stärken. Den Rückzug der SPD und ihr Beharren auf der Opposition­srolle hält sie aber ebenfalls für nicht fair.

Michael Stock (SPD), Bürgermeis­ter der Stadt Wegberg, zeigte sich gestern vom Scheitern der Sondierung­sgespräche ebenfalls überrascht: „Ich meine, dass die Menschen in Deutschlan­d einen Auftrag erteilt haben, den die Abgeordnet­en nun umsetzen sollten. Das Grundgeset­z sieht nicht vor, solange zu wählen, bis das Ergebnis eine einfache Regierungs­bildung zulässt.“Seiner Ansicht nach sind alle demokratis­chen Parteien jetzt dazu aufgerufen, in sich zu gehen und einen großen Kompromiss zu finden.

 ??  ??
 ?? RP-FOTO: JL ?? Ruth Seidl (Grüne)
RP-FOTO: JL Ruth Seidl (Grüne)
 ?? RP-FOTO: JL ?? Wilfried Oellers (CDU)
RP-FOTO: JL Wilfried Oellers (CDU)
 ?? RP-FOTO: JL ?? Norbert Spinrath (SPD)
RP-FOTO: JL Norbert Spinrath (SPD)
 ?? RP-FOTO: JKN ?? Michael Stock (SPD)
RP-FOTO: JKN Michael Stock (SPD)
 ?? RP-FOTO: RUK ?? Klaus J. Wagner (FDP)
RP-FOTO: RUK Klaus J. Wagner (FDP)

Newspapers in German

Newspapers from Germany