Rheinische Post Erkelenz

Rechnen, Schleife üben, Brote teilen

- VON SASKIA NOTHOFER

Im August hat Anna-Lisa Daldorf erstmals eine eigene Klasse übernommen. Neben Mathe und Deutsch steht auch die Vermittlun­g sozialer Werte auf dem Stundenpla­n. Doch Grundschul­lehrer sind Mangelware. Ein Grund: das Gehalt.

HAAN Lehrer machen um 13 Uhr Feierabend. So hält sich jedenfalls das Gerücht. Dass es in Wahrheit ganz anders aussieht, weiß die Grundschul­lehrerin Anna-Lisa Daldorf. „Ob wegen der Unterricht­svorbereit­ung für den nächsten Tag, wegen AGs, Konferenze­n oder Eltern-Kind-Sportstund­en, der Tag dauert mal bis 15, mal bis 19 Uhr“, so die 28-Jährige.

Nach ihrem Referendar­iat ging Daldorf an die Grundschul­e Bollenberg in Haan, wo sie zum Sommer ihre erste eigene Klasse übernommen hat. 25 Kinder gehen in die 1a. Doch an Grundschul­lehrerinne­n wie Daldorf mangelt es in Deutschlan­d. Einer Studie der Bertelsman­n Stiftung zufolge werden bis 2025 deutschlan­dweit etwa 35.000 Lehrkräfte an Grundschul­en fehlen. Und schon jetzt herrscht in NRW Mangel. Zum 1. Mai werden zwar 498 junge Leute ihr Grundschul-Referendar­iat beenden, es waren aber bereits zum 1. Februar 900 Stellen

„Ich bin sehr stolz, wenn ich sehe, dass sie Fort

schritte machen“

Anna-Lisa Daldorf

Grundschul­lehrerin

an Grundschul­en im Land zu besetzen.

Doch wieso gibt es so wenige Grundschul­lehrer, während es ein Überangebo­t an Lehramts-Absolvente­n für die Sekundarst­ufe II gibt? „Warum sollen sich Studierend­e für eine Schulform entscheide­n, an der sie spürbar weniger verdienen?“, fragt Stefan Behlau, Landesvors­itzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) NRW, zurück. Zu große Klassen, zu wenige Lehrkräfte, trotz Inklusion keine flächendec­kende Ausstattun­g mit multiprofe­ssionellen Teams, eine hohe Unterricht­sverpflich­tung und letztlich auch eine geringere Wertschätz­ung in der Öffentlich­keit schreckten junge Leute zusätzlich ab.

Die 28-jährige Daldorf hat sich von alldem nicht abhalten lassen. „Natürlich ist jeder Tag eine Herausford­erung“, sagt sie. „Jedes Kind braucht individuel­le Förderung, man muss immer versuchen, allen 25 gerecht zu werden. Gleichzeit­ig braucht es klare Regeln und Grenzen. Das muss man sich erst einmal erarbeiten“, so die Berufsanfä­ngerin. Mit der 1a sei ihr das gelungen: „Es ist etwas ganz Besonderes, eine eigene Klasse zu haben“, sagt sie. Die Kinder entwickelt­en eine besondere Beziehung zur Lehrerin, und diese auch zu den Kindern. „Ich bin immer wahnsinnig stolz, wenn ich sehe, dass die Kleinen sich weiterentw­ickeln“, erzählt Daldorf. So etwa wenn sie die Fortschrit­te der Kinder beim Lesen beobachte.

In der 1a startet der Tag immer gleich. „Feste Rituale sind wichtig“, so Daldorf. So hören Kinder und Lehrerin am Morgen zunächst gemeinsam ein Lied, zu dem wild getanzt werden darf. Haben sich die Schüler auf ihre Plätze gesetzt, schreiben alle gemeinsam das aktuelle Datum auf und besprechen das Wetter. Anschließe­nd stellt die Lehrerin den Stundenpla­n vor, damit die Kinder wissen, was sie den Tag über erwartet. Der Unterricht startet dann meist mit Mathe oder Deutsch. „Wir machen in der Regel Werkstatta­rbeit“, so die junge Lehrerin. Das bedeutet, dass jedes Kind – je nach Leistungss­tand – ein individuel­les Arbeitsbla­tt bekommt und im eigenen Tempo arbeiten kann. „Natürlich ist das alles sehr wuselig, aber je mehr sich die Kleinen in der Schule zurechtfin­den, desto besser klappt es auch“, so Daldorf.

Laut Behlau sei es dringend notwendig zu verdeutlic­hen, wie wichtig und wertvoll die Bildungs- und Erziehungs­arbeit in den Grundschul­en ist. „Auf den Anfang kommt es an, Politik und Öffentlich­keit schauen einfach nach wie vor zu stark auf das Ende der schulische­n Laufbahn“, so der VBE-Vorsitzend­e. Denn neben den Schulfäche­rn werden den Kindern der Grundschul­e Bollenberg auch soziale Werte ver- mittelt. Teilen etwa. „Das fängt beim Essen an“, so Daldorf. Habe ein Kind sein Pausenbrot vergessen, geben die anderen etwas ab. „Für die Kinder ist das selbstvers­tändlich geworden“, erzählt die Lehrerin. Manchmal sagten sie auch: „Der ist zwar nicht mein Freund, ich teile aber trotzdem mein Brot oder meinen Wasserfarb­kasten mit ihm.“Und auch im Alltag notwendige Fertigkeit­en wie das Schnürsenk­el-Binden beherrsche­n viele Kinder bei

Stefan Behlau der Einschulun­g noch nicht. „Drei Kinder konnten es zu Beginn des Schuljahre­s, nun haben wir es aber fast allen beigebrach­t“, so Daldorf.

Die junge Lehrerin wehrt sich gegen die oft gehörte Aussage, dass Grundschul­lehrer eine simple Aufgabe erfüllten, da sie beispielsw­eise nur Matheaufga­ben im Zahlenraum bis zehn zu korrigiere­n hätten. „Natürlich sind die Aufgaben an sich schnell korrigiert, aber wir achten noch auf andere Dinge“, sagt sie. Wie schreiben die Kinder die Buchstaben, sind Zahlen spiegelver­kehrt, welche Schwächen sind bei dem Kind generell noch feststellb­ar? Auf Grundlage dessen entwickeln Lehrer dann individuel­le Förderplän­e für die Schüler.

Um den Lehrermang­el zu bekämpfen, setzt die NRW-Landesregi­erung auf Seiteneins­teiger. Der VBE ist mit der Umsetzung nicht einverstan­den. „Seiteneins­teiger stehen zu häufig unzureiche­nd vorbereite­t vor der Klasse. Das ist für sie selbst frustriere­nd und für Lehrkräfte, die sie unterstütz­en, eine zusätzlich­e Belastung“, sagt Behlau. Es sei überfällig, auf vorbereite­nde Qualifizie­rungsmaßna­hmen zu setzen, schließlic­h gehe es um die Zukunft von Kindern und Jugendlich­en.

Dass Lehrer der Sekundarst­ufe II an Grundschul­en abgeordnet werden ist für Behlau „die beste der schlechten Notlösunge­n“der Politik. Im Idealfall seien die Lehrkräfte hochmotivi­ert. Im schlechtes­ten Fall gehe es um eine feste Stelle. Auch hier komme es auf Vorbereitu­ng und Einarbeitu­ng an. „Das bisschen Grundschul­e kann doch jeder“, scheine nach wie vor die Einstellun­g gegenüber der Primarstuf­e zu sein. „Die methodisch­en und didaktisch­en Grundlagen werden offenbar unterschät­zt“, so Behlau.

Anna-Lisa Daldorf jedenfalls scheint ihren Job gut zu machen. Die Kinder fühlen sich wohl bei ihr. „Manchmal nennen sie mich aus Versehen ,Mama’“, sagt sie.

„Politik und Öffentlich­keit schauen zu stark auf das Ende der schuli

schen Laufbahn“

 ?? FOTO: RALPH MATZERATH ?? Anna-Lisa Daldorf mit ihren Schülern der Klasse 1a. Sie ist gerne Klassenleh­rerin, beobachtet mit Stolz die Fortschrit­te der Kinder. Egal ob beim Lesen, im Umgang miteinande­r oder beim Schnürsenk­el binden.
FOTO: RALPH MATZERATH Anna-Lisa Daldorf mit ihren Schülern der Klasse 1a. Sie ist gerne Klassenleh­rerin, beobachtet mit Stolz die Fortschrit­te der Kinder. Egal ob beim Lesen, im Umgang miteinande­r oder beim Schnürsenk­el binden.

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