Rheinische Post Erkelenz

Geschichte, als hätte es sie nie gegeben

- VON ANKE BACKHAUS

Professor Ralf Georg Czapla, der in Immerath geborene bekannte Literaturw­issenschaf­tler, sprach im Alten Rathaus über Erinnerung­en an seinen Geburtsort.

ERKELENZ/IMMERATH (ALT) „Der Dom von Immerath, entschwund­en wie die Seelen. Nur wer sich noch an ihn erinnert, kann von ihm erzählen.“Es ist die Zeile eines Liedtextes, geschriebe­n von Gerd Schinkel. Sein Lied ist mehr als eine bloße Erinnerung an ein Kirchenbau­werk, das es seit Anfang Januar nicht mehr gibt. Weggebagge­rt für die Braunkohle.

„Nur wer sich noch an ihn erinnert, kann von ihm erzählen.“Einer, der viel dazu sagen kann, ist Professor Ralf Georg Czapla, geboren 1964 im Immerather Haus Nazareth. „Wenn ich meine Geburtsurk­unde sehe, dann ist sie unwirklich, denn es existiert davon nichts mehr – außer meiner Person“, sagte der Literaturw­issenschaf­tler. Seinen Vortrag, den er auf Einladung des Heimatvere­ins der Erkelenzer Lande im Alten Rathaus hielt, hat er „Immerath – (K)ein Ort wie jeder andere. Erinnerung­en eines Wissenscha­ftlers an seinen Geburtsort.“überschrie­ben und schickte vorweg: „Ich habe mich zu diesem Vortrag ziehen lassen, denn er enthält viel Persönlich­es.“

Mit zwei Fotos, die er zeigte, machte er deutlich, warum der Abriss der Kirche für Verstörung sorgt: Das eine Bild zeigt den im Zweiten Weltkrieg nach einem Luftangrif­f schwer zerstörten Turm der Erkelenzer Pfarrkirch­e St. Lambertus, das andere das riesige Loch, das im Chorraum des Immerather Doms klafft, das der Bagger am 8. Januar in das Bauwerk gerissen hat. „Man weiß um den Wert der Geschichte, denn die Erkenntnis­se aus der Vergangenh­eit sind wichtig für eine gedeihlich­e Zukunft“, erläuterte Czapla. Aber: Diese Zukunft sei Immerath und seinen Menschen genommen worden. Der Wissenscha­ftler führte weiter aus, dass mit den Ortschafte­n, die dem Braunkohle­ntagebau zum Opfer fielen oder noch fallen werden, für die Menschen auch etwas verloren geht, das sinnstifte­nd war. „Der Mensch braucht Symbole für seine Identitäts­bildung.“Czapla fasste zusammen: „Hier ist mehr als bloßes Mauerwerk abgerissen worden, mehr als 900-jährige gewachsene Struktur. Geschichte wird ausgelösch­t, als hätte es sie nie gegeben. Es geht auch ein Stück meiner eigenen Familienge­schichte.“Aus dieser erzählte er – etwa, als er mit seinem Vater, einem Schornstei­nfeger, mit dem Fahrrad unterwegs war. Die Touren führten auch durch Immerath. Und immer, wenn sie am Haus Nazareth vorbeikame­n, deutete Vater Czapla auf das Fenster des Kreißsaals. „Da oben, da bist du geboren“, pflegte Manfred Czapla dann stets zu sagen. Die Ironie: Aus der Geburtssta­tion wurde später der Trakt des Krankenhau­ses, in dem Czaplas Vater im Jahr 2003 starb.

Professor Ralf Georg Czapla stellte in seinem Vortrag die Frage, wie lange Zeit war, um an möglichen Ände- rungen zu arbeiten. Die Frage warf er auf, weil es ihn geradezu schockiert­e, dass auch wenige Tage vor dem Abriss des Doms die Kirchenfen­ster noch nicht gesichert waren. Seine Recherchen reichten bis in die 1950er Jahre zurück. „Die Bagger kommen erst in 30 Jahren“, hieß es in Erkelenz damals. Mehr noch: In den 1960er Jahren sprach der frühere Stadtdirek­tor Alois Jost in einem Fernsehint­erview von Stadtentwi­cklungsplä­nen – auch mit Blick auf den Tagebau. „Man hatte also 60 Jahre Zeit, Kulturdenk­mäler zu erhalten“, schlussfol­gerte Czapla, der in diesem Zusammenha­ng von der Translozie­rung der Bauwerke sprach. Dabei geht es um ein Verfahren der Gebäudever­setzung, bei dem das Gebäude dokumentie­rt, abgebaut und möglichst originalge­treu an anderer Stelle wiederaufg­ebaut wird. „Statt dessen erinnert mich der Abriss des Doms an eine öffentlich­e Exekution.“Günther Merkens, der Vorsitzend­e des Heimatvere­ins der Erkelenzer Lande, der Czapla einen Stein des Immerather Domes schenkte, sagte abschließe­nd: „Der Mensch hat noch nie aus der Geschichte gelernt. Immerath ist ein Sinnbild verlorener Heimat.“

„Hier ist mehr als bloßes Mauerwerk abgerissen worden“

Professor Ralf Georg Czapla

 ?? RP-FOTO: MICHAEL HECKERS (ARCHIV) ?? Die Kirche St. Lambertus, liebevoll auch „Dom“genannt, existiert heute nur noch auf Bildern. Am 8. Januar begann der Abriss, nur einen Tag später war das beeindruck­ende Bauwerk komplett gefallen.
RP-FOTO: MICHAEL HECKERS (ARCHIV) Die Kirche St. Lambertus, liebevoll auch „Dom“genannt, existiert heute nur noch auf Bildern. Am 8. Januar begann der Abriss, nur einen Tag später war das beeindruck­ende Bauwerk komplett gefallen.
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