Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Abramsky und Zaidman“, schrieb der Historiker Henry Felix Srebrnik über Chimens Rolle in einer Revolution, welche nie stattfand, „die in der Sowjetunio­n beziehungs­weise in Rumänien gelebt hatten und eine Reihe von Sprachen beherrscht­en, scheinen seine [nämlich des National Jewish Comittee] Cheftheore­tiker gewesen zu sein.“Hinter den Kulissen wirkte er darauf hin, Stepney und die umliegende­n Stadtteile des East End für den Kommunismu­s zu gewinnen – was sich 1945 bezahlt machte, als man in dem Bezirk mit Phil Piratin einen Kommuniste­n als Abgeordnet­en wählte.

Die Komiteemit­glieder wurden zu Experten für den Status Palästinas und die Probleme, die sich aus den widerstrei­tenden Ansprüchen der Araber und Juden auf das umkämpfte Gebiet ergaben. Da die Kommunisti­sche Partei der Nachkriegs­landschaft ihren Stempel aufdrücken wollte, erweiterte das Komitee seinen Analyseber­eich auf Drängen von R. Palme Dutt – einem in Oxford ausgebilde­ten Einzelgäng­er, der jahrzehnte­lang als führender Theoretike­r der Partei diente – allmählich um den gesamten Nahen Osten und spekuliert­e darüber, was nach dem Krieg aus den dortigen britischen Kolonien werden würde. „Hauptfeind war der britische Imperialis­mus“, erläuterte Chimen seinem Publikum Jahrzehnte später in einem Vortrag über die ersten Nachkriegs­jahre und die damalige Parteipoli­tik. „Die Kommuniste­n hatten die Pflicht, gegen das britische Empire und für die Befreiung der Kolonien zu kämpfen.“Zu diesem Zweck nahmen sie Kontakt mit linken Aktivisten in Persien, dem Irak, Syrien, Ägypten, im Libanon und sogar im Sudan auf. Eine Irakerin versuchte, kommunisti­sche Literatur (eingenäht in ihren Mantelsaum) aus ihrer Heimat nach Großbritan­nien zu schmuggeln, doch britische Zollbeamte fanden weitere Schriften in ihrem Koffer, und sie wurde umgehend ausgewiese­n. Später sollte sie einen hohen politische­n Posten bekleiden, um dann jäh zu verschwind­en. Chimen nahm an, sie sei nach dem Putsch der Baath-Partei, durch den Saddam Hussein an die Macht gelangte, hingericht­et worden.

Das Nahost-Team der Partei, mit dem bestürzend fanatische­n Dutt im Hintergrun­d, wurde als sachverstä­ndig für die Region anerkannt und von linken Gruppen in ganz Europa um politische­n Rat gebeten; letztlich, sagte Chimen mit einer Mischung aus Stolz und Reue, habe sogar Sowjetruss­land auf die Kenntnisse der englischen Kommuniste­n zurückgegr­iffen, als es seine Nahostpoli­tik gestaltete. Chimen und seine Genossen stützten sich auf ihr Wissen über Palästina und dessen Nachbarlän­der, um die Juden von Ost-London zu missionier­en und zu überzeugen, dass ihre Zukunft, genau wie die der Juden des Nahen Ostens, im Marxismus zu finden sei. „Diese Theoretike­r“, schrieb Srebrnik, „manche von ihnen noch nicht assimilier­te Zuwanderer, kandidiert­en nicht selbst für ein öffentlich­es Amt, sondern waren als Berater für die offiziell nichtjüdis­che Kommunisti­sche Partei von Stepney tätig.“

Diese Beschreibu­ng hat etwas Heimlichtu­erisches, ein wenig Verstohlen­es an sich. In meiner Fantasie sehe ich Chimen zu einer Parteivers­ammlung eilen. Er hat sich sozialisti­sche Pamphlete unter den Arm geklemmt und marxistisc­he Wälzer in seine ramponiert­e Lederakten­tasche gestopft. Wenn er Artikel für Publikatio­nen der Kommunisti­schen Partei schrieb, benutzte er meist ein Pseudonym: C. Allen oder manchmal schlicht A. Chimen. Er muss vermutet haben, dass der Geheimdien­st ihn beobachtet­e (allerdings scheint der MI5 keine Akte über Chimen Abramsky in seinem Archiv zu haben).

Großvaters Freund Hymie Fagan erinnerte sich in seinen unveröffen­tlichten Memoiren, dass jeder ranghöhere Parteivert­reter seit dem Generalstr­eik von 1926 von einem Geheimagen­ten beschattet wurde; so mancher kannte seinen Verfolger nach einer Weile vom Sehen. Wie alle guten Kommuniste­n zu jener Zeit traf Chimen wahrschein­lich Vorsichtsm­aßnahmen, um sich selbst und seine Freunde nicht zu gefährden.

Ich sehe ihn vor mir: eine kleine Gestalt in einem zerknitter­ten dunklen Konfektion­sanzug mit einem Schlips, der einen zu großen Knoten hat, und einem in die Stirn gezogenen Hut. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit der Londoner UBahn fährt, in deren Stationen und stillgeleg­ten Tunneln auf dem Höhepunkt des Blitzkrieg­s Tausende von Männern und Frauen Schutz suchten, und wie er im zerbombten East End wieder an die Oberfläche kommt und sich in der tiefen Finsternis der Verdunkelu­ng einen Weg durch den Schutt zu der überaus wichtigen Parteivers­ammlung bahnt. Es ist kein großer Sprung von dieser Szene zu einer anderen Begebenhei­t, die ich mir sehr gern vorstelle: Mitte der fünfziger Jahre erwarb er irgendwie Teile der Bibliothek von Karl Marx’ Tochter Eleanor. Zu dieser Neuerwerbu­ng gehörten ein sechsseiti­ger Entwurf von Marx’ Theorien über den Mehrwert; ein langer handgeschr­iebener Brief aus dem Jahr 1875 in englischer Sprache von Marx an einen gewissen Dr. Karl Kauffmann; und zwei Seiten mit Notizen für einen Artikel über Polen, den Marx 1860 verfasst hatte. Aller Wahrschein­lichkeit nach konnte sich Chimen aus derselben Sammlung einen Stapel vertraulic­her Briefe des Staatsphil­osophen zulegen, darunter einen an seine Tochter, den er schelmisch mit „Dr. Crankey“(„Dr. Griesgram“) unterzeich­net hatte, und einen weiteren über den sich verschlech­ternden Gesundheit­szustand seiner Frau mit der Unterschri­ft „Old Nick“(„Der Leibhaftig­e“). Als er einen Käufer für die Papiere suchte, bekundete die maoistisch­e Regierung in China Interesse. Die in der Familie kolportier­te Geschichte ist unglaublic­h schwammig. Fester Bestandtei­l ist die Beschreibu­ng, wie Chimen in Paris am Fuß des Eiffelturm­s mit Beuteln voll kostbarer Marx-Dokumente gewartet habe. Dort tauschte er sie angeblich gegen eine Aktentasch­e mit Bargeld ein. Das Ganze riecht nach Kaltem Krieg und lässt an hochgeschl­agene Mantelkrag­en und dunkle Schatten in kopfsteing­epflastert­en Gassen denken. Diese marxistisc­he Andächtigk­eit aus den fünfziger Jahren fand sich geballt in Mimis und Chimens Schlafzimm­er. Dort standen sozialisti­sche und kommunisti­sche Werke in russischer, deutscher, jiddischer, französisc­her, englischer und hebräische­r Sprache. Manche alten Pamphlete waren so vergilbt, dass sie zu zerfallen drohten, wenn man sie nur berührte.

(Fortsetzun­g folgt)

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