Diese Reporterin schreibt mit dem Skalpell
Die große US-Schriftstellerin Joan Didion ist Thema der sehenswerten Netflix-Dokumentation „Die Mitte wird nicht halten“.
Es ist gar nicht so leicht, Joan Didion zu mögen, das wird einem in den ersten Minuten dieses Films noch einmal bewusst. „Die Mitte wird nicht halten“heißt die NetflixDokumentation über die große amerikanische Journalistin und Schriftstellerin, die in den vergangenen Jahren auch zu einem Stilvorbild wurde, zu einer Ikone des Cool. Da sitzt die 83-Jährige dann auf dem Sofa in ihrem Apartment an der Upper East Side nahe dem Central Park und wird auf jene verstörende Stelle in ihrem Essay-Band „Die Stunde der Bestie“aus dem Jahr 1968 angesprochen. Didion besuchte damals eine Hippie-Kommune, und dort sah sie eine Fünfjährige, die auf LSD war. Sie beschrieb das Kind in ihrem Text, und nun, so viele Jahre später, wird sie gefragt, wie die Begegnung für sie war. „Ein Glücksfall“, antwortet sie. „Für solche Momente lebt man.“Sie schweigt kurz, nickt, eine große und sehr schwere Traurigkeit scheint sich über sie zu legen. Dann schiebt sie hinterher: „Egal, ob sie schön sind oder nicht.“
Didions Neffe, der Schauspieler Griffin Dunne, den man aus der Serie „I Love Dick“kennt, hat diesen unheimlich faszinierenden Film gedreht. Didion ist ja sehr öffentlichkeitsscheu, es gibt nicht so viel Filmmaterial mit ihr. Deshalb ist man dankbar für die Aufnahmen von ihrem Bücherregal, in dem Bände von Susan Sontag neben Werken von Kurt Vonnegut und Doris Lessing stehen. Man folgt Didion gebannt durch ihre Wohnung, man sieht zu, wie sie Gurken-Sandwiches macht, ihre Freundin Vanessa Redgrave empfängt, und man fragt sich die ganze Zeit, woher diese unglaublich zarte Frau, die geradezu durchsichtig zu sein scheint und nur 34 Kilo wiegt, ihre Kraft nimmt.
Genau diese Frage ist der Kern des Films. Denn er erzählt zwar brav chronologisch. Und er ist bisweilen allzu diskret. Aber er kommt dem Geheimnis dieser Autorin nahe, dem Grund, warum ihr Werk so anziehend wirkt. Didion wurde 1934 in Kalifornien geboren, und sie begann früh zu schreiben. Ihre erste Story handelte von einer Frau, die Angst hatte, in der arktischen Nacht sterben zu müssen, bis sie morgens aus ihrem Traum erwachte und erkannte, dass sie sich in der Wüste befand und spätestens am Mittag tot sein würde. Ihre Mutter machte sie auf einen Schreibwettbewerb der „Vogue“aufmerksam. Der Sieger wurde eingeladen, für das Magazin in New York zu arbeiten. Didion gewann und zog in den Big Apple, wo sie mit Tom Wolfe und Norman Mailer den „New Journalism“erfand, das journalistische Schreiben mit literarischem Anspruch.
Didion veröffentlichte maßgebliche Reportagen über El Salvador und die Morde der Manson-Family, über Dick Cheney und John Wayne. Sie zog nach Los Angeles, schrieb Drehbücher für die Filme „A Star Is Born“mit Barbra Streisand und „Panik im Needle Park“. Sie schrieb Romane, und sie lebte in einer Strandvilla aus Holz in Malibu, die Harrison Ford baute, als er noch als Zimmermann arbeitete. Sie lud ihn zu Partys ein, er lernte dort Steven Spielberg und George Lucas kennen, und bald danach spielte er den Han Solo in „Star Wars“. Joan Didion wurde zur wichtigsten Stimme Amerikas, ihre Texte „Das weiße Album“und „Am Morgen nach den 60er Jahren“wurden ikonisch – ebenso wie die Fotos von ihr: die große Sonnenbrille, die Corvette, die Zigarette zwischen den Fingern.
Didion reiste dahin, wo sich das Neue ereignete. An die Orte, an denen ihr das Gefühl für ihre Zeit abhandenkam. „Horror of disorder“sei ihr Antrieb, sagt sie, die Angst vor dem Chaos. Und sie sei der Meinung, dass einen die Schlange nicht beißen würde, solange man sie im Blick behalte. Also ging sie mit enormer Unerbittlichkeit all den Dingen auf den Grund, die sie irritierten. Man muss nur noch einmal ihre in der „New York Review Of Books“erschienene Dokumentation über die Vergewaltigung der 29 Jahre alten Joggerin im Central Park lesen, die 1990 Amerika in Atem hielt. Wie eiskalt und präzise sie nach der Wahrheit sucht. Man hält es kaum aus. Aber tatsächlich: Nach vielen Jahren stellte sich durch einen Zufall heraus, dass die fünf Verurteilten die Tat nicht begangen hatten.
Vielleicht ist es so, denkt man an dieser Stelle, dass man Didion nicht in einem naiven und klassischen Sinne „mag“, sondern sich ihr deshalb nahe fühlt, weil man sie bewundert. Man bewundert sie für ihren Glauben daran, dass die Phänomene einen Grund haben, einen Sinn. Und dafür, dass sie nicht aufgibt, nach dem Grund und dem Sinn zu suchen. Sie selbst schont sich dabei nicht, das spürt man
Ihre Holz-Villa in Malibu wurde von Harrison Ford gebaut, als der noch Zimmermann war
rasch. Sie heiratete in den 1960er Jahren den „Time“-Journalisten John Gregory Dunne, und als ihr Neffe sie über diese Ehe befragt, antwortet sie, dass sie nicht wisse, was verlieben bedeute. „Das gehörte nicht zu meiner Welt“.
Sie redigierte seine Texte, er die ihren. Sie eignet sich die Welt über das Schreiben an, das zeigen auch die Bücher, mit denen sie hierzulande populär wurde. „Das Jahr des magischen Denkens“(2005) widmete sie ihrem Ehemann, der starb, weil er sich so sehr sorgte um die erkrankte und ins Koma gefallene gemeinsame Adoptivtochter Quintana. Kurz nach dem Tod des Vaters starb auch Quintana, und ihr widmete Didion das Buch „Blaue Stunden“(2011). Beide Bände sind Erforschungen der Trauer, Erkundungen eines Zustands, und Didion, die Überlebende, verfährt mit dem eigenen Gefühl wie früher in ihren Reportagen: Sie dringt mit dem Skalpell so weit vor, bis sie Klarheit hat. Sie ist sich selbst Material, gönnt sich keine Sentimentalität. Sie zerlegt den Schmerz mit größtmöglicher Distanz und Scharfsicht.
Anderthalb Stunden dauert dieser Film, und man hofft, er würde anderthalb Tage dauern. Die gute Nachricht ist, dass Joan Didion weiter schreibt. Einer der letzten Sätze, die sie hier spricht, hallt lange nach: „Sieh gut hin und schreib es auf.“