Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Was tut er? Er lässt durch uns beim Bezirksgericht Innsbruck klagen, wegen irgendeiner Bagatelle, vierzehn Kronen oder so was, und bei der Passkontrolle weist er die gerichtliche Vorladung vor. In Ordnung. Nichts zu machen. Man muß ihn hinüberlassen.“
„Und zu solchen Praktiken gebt ihr euch her?“rief Vittorin.
„Mein Lieber, was willst du haben, das sind ja noch relativ ganz saubere Geschäfte. Hast du denn eine Ahnung, mit was für Ansinnen und Vorschlägen und Wünschen die Leut’ zu uns heraufkommen? Manchmal frag’ ich mich, wozu ich vier Semester Jus studiert habe. Ein Taschendiebkursus, das wäre die richtige Vorbereitung gewesen. Und dabei muss ich eigentlich noch froh sein, dass mich der Doktor Eichkatz behält. Wo find’ ich denn so leicht einen Posten mit meinem steifen Arm! Und zu Hause – mein Vater hat wieder geheiratet, mit der Stiefmutter vertrag’ ich mich nicht. Bei jedem Bissen, den man vor mich hinstellt, hämische Bemerkungen.
Wenn ich weiterstudieren, mein Doktorat machen könnte – aber nein: Verdienen, verdienen, verdienen! Muß man denn nicht Bolschewik werden in dieser erbärmlichen, korrupten und verrotteten Gesellschaft, in der wir leben?“
Vittorin stand auf. „Du solltest mit mir nach Russland“, meinte er.
„Daran hab’ ich auch schon gedacht“, sagte Kohout.
Auf Kohouts Rat verkaufte Vittorin alles, was er an Wertgegenständen besaß: sein Fahrrad, zwei goldene Ringe, die Klassiker und die Prachtausgaben aus seinem Bücherkasten. Den Goerztrieder, den er vor dem Krieg erstanden und in kleinen Monatsraten abgezahlt hatte. Einen Kodak, einen Spazierstock mit Elfenbeinkrücke, eine Krawattennadel mit zwei kleinen Saphiren – ein Geburtstagsgeschenk seines Vaters – und schließlich noch ein Dombaulos und ein Paar Halifaxschlittschuhe. Die Schwestern merkten nicht, dass ein Stück nach dem anderen aus der Wohnung verschwand. Der Erlös reichte zusammen mit dem Geld, das schon vorhanden war, aus, um die Reise nach Russland sicherzustellen. Und nun, da nach menschlicher Voraussicht nichts mehr die Verwirklichung seines Plans gefährden konnte, fand Vittorin endlich seine Ruhe und sein inneres Gleichgewicht wieder. Das Phantom, das von seinem Gehirn Besitz ergriffen hatte, gewährte ihm eine kurze Frist gelassenen Lebens, bevor es ihn der Welt der Abenteuer zur Beute gab.
Er hatte sich vorgenommen, an das, was er seine Aufgabe, seine Mission nannte, nicht mehr zu denken bis zu der Stunde, da diese Mission ihn abberief. Er war auf Urlaub, doch auch da gab es Pflichten. In den Tagen, die ihm blieben, wollte er den Menschen gehören, die ein Anrecht auf ihn besaßen: seinem Vater, seinen Schwestern, seinem Arbeitgeber und dem Mädchen, das ihn liebte. Sie sollten keinen Anlass haben, über ihn zu klagen.
Er kam täglich um acht Uhr morgens als erster in sein Büro. Da ihm noch kein bestimmtes Ressort zugewiesen war, half er aus, wo man ihn brauchen konnte. In dem Bestreben, sich irgendwie nützlich zu machen, „sich nichts schenken zu lassen“, übernahm er jede Art untergeordneter Arbeit. Er bediente das Telefon, er addierte lange Ziffernkolonnen, er schrieb Briefe, die ihm seine jüngeren Kollegen in die Ma- schine diktierten. Zu Hause zeigte er sich stets bereit, die französische Schulaufgabe seines Bruders durchzusehen, den Schwestern Bücher und Noten aus der Leihbibliothek zu holen, mit dem Vater, der schweigsam, in sich gekehrt, von Sorgen schwer bedrückt, seine Pfeife rauchte, eine Partie Schach zu spielen. Wurden im Kreise der Familie Pläne für die nächsten Wochen erörtert, ein Besuch bei Bekannten etwa oder ein Sonntagnachmittags-Ausflug, dann hörte er schweigend zu mit einem kaum bemerkbaren, nachsichtigen Lächeln, das nicht ahnen ließ, wie unbeteiligt an all diesen Dingen er sich fühlte.
Die Abende verbrachte er mit der Franzi. Wenn sie ihr Büro verließ, sah sie ihn in seinem kurzen Militärrock wartend an der Straßenecke stehen. Sie gingen in ein Kino, in einen Weinkeller oder in ein kleines Vorstadtgasthaus. Überall gab es Leute, niemals war sie mit ihm allein. Sie war des Wartens müde, sie hätte gerne in einem kleinen Mietzimmer mit ihm zusammen gelebt, als seine Frau oder als seine Freundin, das galt ihr gleich. Dass dies so bald nicht sein konnte, war ihr klar. Allzu viel Widerstände waren zu überwinden. Um so ungeduldiger wünschte sie den einen Tag herbei, der ihnen beiden ganz allein gehören sollte. Von diesem Tag, dem ersten Dezember, sprach sie in geheimnisvollen Andeutungen, sie verriet keine der kleinen Überraschungen, die sie für ihr Zusammensein in der elterlichen Wohnung vorbereitet hatte. Von einer Bürokollegin hatte sie ein Grammophon mit der neuesten Tanzmusik entliehen. Auch einen kleinen Vorrat an Holz und Kohle hatte sie sich beschafft und Rum und Zucker und Zitrone, um Punsch bereiten zu können, und eine Flasche Kognak, lauter Dinge, die schon lange den Wert des nicht Alltäglichen besaßen.
Wenn sie zwei Gläser Wein getrunken hatte, wurde sie übermütig und ausgelassen. Sie begann, sich für die anderen Gäste des Lokals zu interessieren, sie warf ihnen herausfordernde Blicke zu, und wenn diese Blicke erwidert wurden, wenn irgendwer ihr heimlich zutrank oder ein Scherzwort zurief, dann wandte sie sich mit einem verwunderten und hilfesuchenden Gesicht an Vittorin: Was wollen denn die Leute von mir? – Später schlug dann ihr Übermut in eine jähe Traurigkeit um. Sie lehnte den Kopf an Vittorins Schulter und schluchzte, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Niemals unterließ sie es, den Grund ihrer Traurigkeit anzugeben: Sie weinte des trüben Herbstwetters wegen, oder weil sie ihr Chef tags zuvor angeschrien hatte, weil die Mutter ihr nicht erlauben wollte, einen Kanarienvogel zu halten oder überhaupt, weil das Leben so traurig und so schön und so kurz war.
Wenn Vittorin sie dann nach Hause gebracht hatte, ging er noch in das Café Elite. Kohout unterbrach seine Billardpartie, um ihm Bericht zu erstatten. Die Sache ging vorwärts. Der Plan, über Rumänien zu reisen, war fallengelassen worden, denn die Einreiseerlaubnis nach Ostgalizien war viel leichter zu bekommen; man brauchte bloß anzugeben, dass man das Grab eines gefallenen Bruders besuchen wolle. Wäre man erst einmal in Ostgalizien, erklärte Kohout, sei alles gewonnen.