Bloß nicht Freunde um Hilfe bitten!
Für Freunde tut man alles. Nur bitten die immer seltener um Hilfe – vielleicht, weil es für jeden Gefallen kommerzielle Angebote gibt.
DÜSSELDORF Freunde bitten, fällt schwer. Neuerdings jedenfalls. Natürlich gibt es sie noch: Junge Leute, die samstags bei Bekannten Kartons schleppen, ramponierte Kleinlaster beladen und nach dem Umzug gemeinsam schlechte Pizza verdrücken. Die Umzugshilfe ist ein Klassiker unter den Freundschaftsdiensten. Und genauso klassisch ist, dass die Hilfsanfragen seltener werden, sobald die Freunde feste Jobs finden, das Einkommen steigt, erste Rückenprobleme den Dienst an der Waschmaschine verhindern. Freundschaftsdienste verändern sich mit dem Alter.
Die Konsumgesellschaft lebt davon, dass jede Schuldigkeit sofort beglichen wird
Doch da hat sich mehr verschoben: Wer wagt noch, Freunde ums Blumengießen in den Ferien zu bitten, sie beim Hausbau, bei der Gartenarbeit, bei der Versorgung der alten Eltern einzuspannen oder sich vom Flughafen abholen zu lassen? Wer bringt die kaputte Hose des Kindes zur Freundin, die seit kurzem näht, statt zum Änderungsschneider an der Ecke? Lieber nicht! Man will ja nicht nerven. Die Schwelle, Freundschaftsdienste als „zu viel verlangt“zu empfinden, ist niedriger geworden. Wer einem am Herzen liegt, den verschont man mit Anfragen und Zusatzaufgaben. Als könnte die Bitte um einen Gefallen, die Freundschaft gefährden.
Das mag mit einem höheren Stressempfinden zu tun haben. Wer selbst durch seinen Alltag hetzt, Job, Familie, Freizeit zu vereinen sucht und dabei oft das Gefühl hat, für nichts wirklich Zeit zu haben, mag auch anderen nicht zur Last fallen. Den Freunden geht es schließlich nicht besser. Darüber unterhält man sich ja ständig. Da will man nicht auch noch lästig werden.
Die neue Zurückhaltung bei den Freundschaftsdiensten könnte auch damit zusammenhängen, dass es heute für jede kleine Aufgabe ein passendes kommerzielles Angebot gibt – zu finden im Netz, nutzbar über das Handy. Lebensmittelgeschäfte bieten online Bestell-und-Lieferdienste an, jedes zweite Restaurant lässt seine Speisen von Fahrradkurieren in die ganze Stadt lieferandoen. Wer mag da noch für die Party um Mitbringsalate oder Selbstgebackenes bitten. Es gibt Internetplattformen, auf denen frühere Freundschaftsdienste wie Briefkasten leeren, Rasen mähen, Glühbirne wechseln an Nachbarschaftsnetzwerke delegiert werden können. Der Unterschied zum früheren Anruf bei den Freunden: Online organisiert, ist die Hilfe ein wohl kalkuliertes Geben und Nehmen zwischen eigentlich Unbekannten. Niemand muss sich über die Spielregeln hinaus verpflichtet fühlen. Auch für Dienste wie Babysitten, Gassigehen, Nachhilfe geben oder Seniorenbetreuung gibt es heute ein riesig gewachsenes Angebot an digitaler Vermittlung.
Darin kann man Fortschritt sehen. Freunde müssen einander eben nicht mehr mit den Banalitäten des Alltags behelligen, sie können sich ganz auf die gewichtigen Gespräche bei einem guten Glas Wein konzentrieren. Qualitätszeit nennt man das heute. Doch könnte es sein, dass Freundschaften, die nur dem Spaß und dem gepflegten Austausch dienen, etwas fehlt. Erprobte Verlässlichkeit zum Beispiel. Und auch die Freude, gemeinsam etwas bewältigt zu haben.
Denn Hilfe unter Freunden in Anspruch zu nehmen, erfordert etwas, das in der schnelllebigen Gegenwart selten geworden ist: Verbindlichkeit. Nicht nur bei jenen, die eine Hilfe zusagen, sondern womöglich noch mehr bei denen, die bitten, die wissen, dass sie in der Schuld des Freundes stehen werden. Wer einen Gefallen einfordert, signalisiert zugleich, dass er sich bei Gelegenheit revanchieren wird – echte Freunde können darauf vertrauen. Und sich Zeit lassen, sie gehen davon aus, dass ihre Bindung noch Jahre bestehen wird.
Die Konsumgesellschaft dagegen lebt davon, dass alles sofort beglichen – mit gleicher Münze heimgezahlt werden muss. Und wer all die Bequemlichkeiten nutzt – und bezahlt, die in der Dienstleistergegenwart angeboten werden, fängt an, in diesen Kategorien zu denken. Wie wurde anfangs noch gelächelt über Gassigeher in den USA, die zehn Hunde gleichzeitig spazieren führen. Heute ist das auch hierzulande ein gefragter Job. Für Anhalter gibt es neue Mitnahme-Apps, allerdings kostet die Vermittlung Gebühren. Die Kommerzialisierung des Sektors „Gefallen tun“schreitet voran. Freundschaft funktioniert aber anders als Marktwirtschaft: Gerade das „Verschulden“schafft Bindung.
Und Studien zeigen, dass die Vernetzung über Gefälligkeiten auch glücklicher macht. So haben etwa Forscher der Universität von British Columbia (Kanada) herausgefunden, dass Menschen, die sich regelmäßig zum Helfen verpflichten, später bei Befragungen in Sachen Selbstvertrauen, guter Stimmung und Empathie besser abschneiden. Auch ihr Cholesterinspiegel sank. Es tut gut, für andere nützlich zu sein. Trotzdem halten viele ihre Freunde neuerdings lieber auf Sicherheitsabstand, wiegen sie in Bequemlichkeit, bitten sie um nichts.
Vielleicht auch, weil es in einer durch und durch individualisierten Welt ein Unbehagen an Abhängigkeiten gibt. Unverbindlichkeit kann ja auch Freiheit bedeuten. In dem französischen Film „Ziemlich beste Freunde“etwa schließen der schwer behinderte Philippe und sein Pfleger Driss vielleicht nur darum Freundschaft, weil ihr Verhältnis am Anfang auf einem klaren Vertrag beruht: Betreuung gegen gutes Geld, kein Mitgefühl, das sich schnell erschöpfen könnte. Doch erst als ihr Verhältnis sich jenseits dieser Abmachung bewähren muss, werden die beiden wirklich Freunde.
So widersprechen Freundschaftsdienste beharrlich dem Zeitgeist, schaffen Bindungen zwischen Individuen, die immer mehr Aufgaben in ihrem Leben als Dienstleistung begreifen und gegen Geld erledigen lassen. Vielleicht ist aber um Hilfe zu bitten der schönste Beweis einer Freundschaft.