Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Ein Unfall? Mord! Auf den Doktor hat ein Patient geschossen. Nein, im zweiten Stock war’s. – Der Russe? Nein, der andre. Tot. – Zwei ehemalige Offiziere. Ein Duell ohne Zeugen. – Der Russe ist verwundet. – Lassen Sie mich hinein, ich gehöre ins Haus. – Weitergehen! Nicht Stehenbleiben! –
„Ja“, sagte Vittorin, „wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, dann kannst du hinaufgehen und mich holen.“
Und er drückte dem Bruder so warm wie nie zuvor die Hand.
Das Treppenhaus war dunkel. Ein leises Angstgefühl kam über ihn, es war ihm plötzlich, als ginge er die steile Treppe nicht allein hinauf. Regte es sich nicht im Dunkeln? Lautlose Schritte, – Schatten rings um ihn her. Die Toten, die Toten dieses Kampfs waren gekommen, sie wollten dabei sein, nun, da es ans Ende ging. An das Treppengeländer gelehnt stand in seinem kirschroten Schlafrock der alte Kammerherr und nickte ihm zu. – ,Als Opfer gefallen im Kampfe’, sagte eine Stimme, und einen Augenblick lang sah Vittorin das lächelnde Knabengesicht des Grafen Gagarin. Aus dem Dunkel kam Artemjews Flüsterstimme: ,Sind Sie es, Genosse? Ich habe Sie erwartet. Jetzt zeigen Sie uns, was Sie können.’ – Ein leises Scharren, ein Ächzen und Stöhnen, – das waren die roten Soldaten, die er bei Miropol in das Sperrfeuer der Granaten geführt hatte um Seljukows willen. Sie waren gekommen, sie standen dicht gedrängt hinter ihm, bereit, ihm wiederum zu folgen.
Licht fiel vom Flurfenster her auf die Treppe, auf das abgegriffene Geländer, auf die weiß getünchte Wand. Schwer und langsam stieg Vittorin die letzten Stufen hinauf. Jetzt stand er vor der Tür.
Er las einen fremden, gleichgültigen Namen auf dem Türschild. Ein jähes Erschrecken sprang in ihm auf, – vielleicht kam er zu spät, – Seljukow ist fort, gestern abgereist und niemand weiß, wohin – Aber während er noch überlegte, geschah es, dass er einen feinen, fremdartigen Geruch verspürte, der durch die geschlossene Tür drang, er kannte diesen Geruch, aus Sibirien kannte er ihn, aus dem Lager von Tschernawjensk, es war das Aroma des chinesischen Tabaks, das Aroma der Zigaretten, die Seljukow rauchte, und er schloss die Augen und sog mit einem unaussprechlichen Wohlgefühl den Duft eines vergangenen Tages ein.
Dann läutete er. Hinter dieser Türe, jetzt wusste er es, war Seljukow.
Der Tür gegenüber stand ein Bett mit einer gestreiften Decke. Den Raum zwischen Bett und Fenster nahm ein sonderbares Möbelstück ein, eine Art Tischchen mit einer Tretvorrichtung und zwei Rädern. Rechts an der Wand hing ein Büchergestell, das viel zu groß war für die wenigen Bücher, die es enthielt. Auf dem freien Raum stand ein Spirituskocher neben einer Teekanne aus Steingut. Überall im Zimmer gab es holzgeschnitzte Figürchen, auf dem Schrank, auf der Kommode, auf dem Fensterbrett und in allen Winkeln: buntbemalte Dorfmusikanten, säbelschwingende Kosaken, trinkende Bauern, eine Troika, eine Dorfschmiede, tanzende Bären, und auf dem Waschtisch neben dem Wasserkrug stand eine Kirche mit blauer Kuppel und vielen winzigen kleinen Wallfahrern.
Auf einem Tisch in der Mitte des Raums lagen kleine Messer mit verschiedenartig gekrümmten Klingen zwischen Farbtöpfen und Rundhölzern. An dem Tisch saß ein Mann mit einer Brille, unrasiert, in einem alten, abgetragenen Sakko, und dieser Mann war Seljukow.
Vittorin hielt noch immer die Türklinke in der Hand und starrte auf die bemalten Holzfiguren, auf die zerschlissene Bettdecke, auf den Mann mit der Brille und auf den zerbrochenen Wasserkrug. Es war kalt im Zimmer, kein Feuer brannte in dem gusseisernen Ofen.
Seljukow erhob sich. Seljukow trug ausgetretene Pantoffeln, seine Hosen waren an den Knien durchgewetzt. Der Tisch mit dem Tretbrett und den Rädern war eine Drehbank.
„Erkennen Sie mich, Michajlowitsch?“fragte Vittorin nach langem Schweigen.
Nein. Seljukow erkannte ihn nicht. Seljukow nahm die Brille ab, um sie zu putzen. Seine Augen waren entzündet.
„Leutnant Vittorin aus dem Lager Tschernawjensk. Ehemaliger Kriegsgefangener, Pavillon 4.“
Der Mann, der Seljukows Gesicht hatte, lächelte und sprach mit Seljukows Stimme: „Tschernawjensk! Vorbei sind diese Tage. Damals war ich Offizier und diente Russland.“„Und heute?“
„Nun, Sie sehen. Ich lebe. Ich schnitze Spielzeug, und ein Kamerad, der im großen Krieg mein Diener war, verkauft es auf den Straßen. Manchmal verkauft er, manchmal aber kommt er erst spät abends und bringt kein Geld.“
Vittorin suchte ein Wort und fand es nicht. Eine große Leere war in ihm, er starrte durch das Fenster hinaus auf die Straße. Pascholl – hieß dies Wort nicht Pascholl? Seljukow stand vor ihm in Pantoffeln und mit unrasiertem Kinn. Wo war das Georgskreuz? Wo war die Zigarette, nie hatte er Seljukow ohne Zigarette gesehen, wo war der Duft des chinesischen Tabaks? Es roch nach Lack, nach Leim und nach frischer Farbe.
„Rauchen Sie, Michael Michajlowitsch?“fragte er mit gepresster Stimme.
„Nein. Früher habe ich geraucht, jetzt aber rauche ich nicht mehr.“
„Aber haben Sie nicht eben erst, kurz bevor ich kam, eine Zigarette geraucht? Ausländischen Tabak? –“
„Nein“, sagte Seljukow. „Seit einem Jahr schon habe ich nicht geraucht. Aber wenn Sie gestatten –“
Er nahm eine von den Zigaretten, die Vittorin ihm anbot und zündete sie an. Auf eine unnachahmliche Art hielt er sie, während er die blauen Ringe in die Luft blies, zwischen zwei Fingern der linken Hand. Und einen Augenblick lang war es Vittorin, als hätte er den Stabskapitän Seljukow vor sich, Seljukow mit dem hochmütigen Gesicht, mit dem Georgskreuz und dem Wladimirorden. –
„Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?“fragte er, und jetzt war in seiner Stimme ein kalter und harter Klang. „Geht es Ihnen gut, Michael Michajlowitsch?“
„Zufrieden? Ich bin vielleicht sogar noch mehr als zufrieden. Ich habe immer Glück gehabt. Meine Kameraden sagten: ,Seljukow hat in allem Glück, selbst in der Hölle findet er ein kühles Plätzchen.’ Es geht mir gut. Ich will Ihnen sagen, ich hatte in Moskau eine Freundin, sie war Sängerin an der Oper.