Favre macht Dortmund besser
Die Detailarbeit des Trainers trägt Früchte. Mit einem 4:0 in Stuttgart sichert der BVB die Tabellenführung.
DORTMUND/STUTTGART Generationen von Sportwissenschaftlern mögen sich bereits den Kopf darüber zerbrochen haben, wie man einen Fußballer besser macht. Dabei ist die Antwort ganz einfach. Lucien Favre (60) hat sie bestimmt schon tausendmal gegeben: „Mit Arbeit.“Er könnte auch sagen: „Mit Kleinarbeit.“Der Schweizer Fußballtrainer ist geradezu verliebt in die Details des Spiels. Und er wird nicht müde, seinen Spielern die Fußhaltung um Zentimeter zu korrigieren, Abläufe einzustudieren, Ballannahme und die vielzitierten Laufwege zu üben. Es vergeht kein Trainingstag, an dem Favre keine kleinen Sonderschichten mit seinen Fußballern einlegt. Das zieht sich durch seine Karriere. Und das ist selbstverständlich auch bei Borussia Dortmund so.
Ein Zwischenergebnis dieser Arbeit ist die Tabellenführung in der Bundesliga, die der BVB mit einem 4:0-Erfolg beim VfB Stuttgart untermauerte. Favre wird sich besonders darüber gefreut haben, dass es endlich mal kein Gegentor gab, und dass seine Mannschaft ausnahmsweise mal keinem Rückstand hinterherlaufen musste. „Wir haben schnell nach vorn gespielt und den Ball gut laufen lassen“, sagte der Dortmunder Kapitän Marco Reus, „es war ein gelungener Nachmittag.“
Der erst 18-jährige Engländer Jadon Sancho trug mit seinem frühen Führungstreffer entscheidend dazu bei. Er gehört zu denen, die mit großer Begeisterung ihrem Fußballtrainer folgen. Das ist typisch für Favres Fußballlehrer-Laufbahn, bei jungen Spielern entfaltet er seine größte Wirkung. Das war in Berlin bei Hertha BSC so, das war bei Borussia Mönchengladbach so, und daran hat sich in Dortmund nichts geändert. „Er macht mich besser“, erklärte Jacob Bruun Larsen (20). Er steht damit für viele, die durch Favres Hände gegangen sind.
Natürlich wird der BVB-Trainer auch nach dem im Ergebnis bemerkenswerten Erfolg beim VfB Stuttgart auf seine Erfolge in der Aufbauarbeit bei talentierten Nachwuchsspielern im Allgemeinen und bei der westfälischen Borussia im Besonderen angesprochen. Er begegnet solchen Gesprächsansätzen mit einem leise verhuschten Lächeln und seinem Mantra: „Wir müssen Geduld haben, und wir haben noch viel Arbeit.“In der Regel platziert er noch gern den Satz: „Es ist schwer.“Und manchmal sagt er auch: „Es ist nicht so leicht.“Dann zieht er die Augenbrauen ein bisschen nach oben und bekommt ganz große Augen, damit auch niemand übersieht, dass das alles nicht selbstverständlich ist. Und vor allem: Dass es nicht selbstverständlich so weitergeht.
Favre hat sich auch immer als Mahner verstanden. Beifall findet er wie jeder in diesem Geschäft schön, aber er bremst euphorische Erwartungen. Das ist durchaus keine Koketterie. Ein leiser Pessimismus liegt ihm im Wesen. In Berlin und ganz besonders in Mönchengladbach, wo er über vier Jahre arbeitete, führte das zu verzweifelten Rücktrittsgesuchen in vierteljährlichen Abständen. Im größten Erfolg sah er stets die größten Berge vor sich. Er hat sie schließlich doch bestiegen, so dass seine jeweiligen Vereinsführungen die wiederkehrenden Verzweiflungsattacken („das geht nicht mehr, es ist zu schwer“) als kauzige Charaktermerkmale abtaten. Als er dann doch mal Ernst machte und Gladbach zu Beginn der Saison 2015/16 verließ, war das eine echte Überraschung.
Von Abschiedsgedanken in Dortmund, das seine Detailarbeit in kurzer Zeit an die Spitze der Bundesliga gespült hat, kann keine Rede sein. Und selbstverständlich hält Favre seine Mission nicht für beendet. Er sieht Nachholbedarf in der Schulung seiner jugendlichen Defensive. Und ein leises Grausen erfasst ihn, wenn sein Team wie so oft in dieser jungen Saison mal wieder zurückliegt. Das passt so gar nicht in seinen Plan. Aber er hat dem BVB zumindest so viel Selbstvertrauen verpasst, dass die Mannschaft mit Rückständen umgehen kann. Es wirft sie nicht aus der Bahn wie in der zurückliegenden Saison. Denn sie hat Lösungen gelernt – auch das ist ein Ergebnis seiner detailverliebten Arbeit. Lieber ist Favre allerdings ein Spielverlauf wie in Stuttgart. Das Haar in der Suppe aber fand er auch da. Mit der Stuttgarter Systemumstellung habe sein Team Probleme gehabt, räumte er ein. „Wenn sie ein Tor machen, weiß ich nicht, was passiert“, sagte er. Dass es zum Zeitpunkt der kleinen Dortmunder Schwierigkeiten bereits 3:0 stand, erwähnte er nicht. Solche Probleme hätte die Konkurrenz gern.
Bevor allerdings das begeisterungsfähige BVB-Umfeld im Bewusstsein eines Vierpunkte-Vorsprungs auf den großen Rivalen Bayern München völlig abhebt, findet Favre in der augenblicklichen Personalsituation zu seinem eigenen Glück Anlass zu profunder Warnung. Manuel Akanji, Marcel Schmelzer, Christian Pulisic und Marius Wolf fallen zurzeit verletzt aus. „Die Belastung der Spieler ist viel zu hoch“, klagte der Coach. Das kann er jedoch nicht ändern. Am Mittwoch geht es im Champions-League-Gruppenspiel gegen Atlético Madrid weiter. „Das ist eine gute Mannschaft“, sagt Favre und macht dabei anerkennend große Augen. Aber das hat er vor dem Spiel in Stuttgart auch gesagt.