Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Cambridge und Oxford galten als das härteste Pflaster in der britischen Wissenschaftslandschaft, und wer hier überlebte, konnte von nichts mehr erschüttert werden. Hunt hatte es überlebt. Ein Beispiel für seinen Erfolg war das Collegezimmer, in dem seine Studenten jetzt Wodka tranken. In Cambridge bekamen Professoren ein geringeres Gehalt als ihre Kollegen an anderen Universitäten. Im Gegenzug dafür gab es Statusersatz. Dieses Zimmer war sein verbissen erkämpfter Gehaltsausgleich.
Es war ein langer Weg hierher gewesen. Er erinnerte sich gut an die vielen kleinen Büros, in denen er hatte arbeiten müssen, bis er in diesen Prachtraum einziehen konnte. Um den Moment niemals zu vergessen, hatte er das Zimmer mit Hinweisen versehen, die nur er verstehen konnte. Auf der Rückseite seines ersten selbst gekauften Queen-Anne-Sofas klebte immer noch ein alter Zettel der Umzugsfirma: „Transport Universität Nottingham nach Cambridge“. Die erste Ausgabe seines ersten Buches hatte er hinter einer großen Wedgewood-Porzellanschale versteckt, und in einem Karl-Marx-Band lag ein Zeitungsfoto, das ihn bei der Entgegennahme des Wolfson-Preises zeigte. Hunt liebte die Gegenstände in diesem Raum, und er liebte den Raum. Obwohl er nie ein Insider gewesen war, nie Teil des Establishments, hatte er es am Ende doch geschafft. Er hatte die Regeln durchschaut.
Ob Wera, die Wahre, das in ihrer Arbeit über Kim Philby herausfinden würde? Dass es Philbys größter Triumph gewesen war, die Methoden des Establishments – die Netzwerkarbeit, den Nepotismus – zu nutzen, um sie dann gegen dieses Establishment zu wenden? Für Philby musste es amüsant gewesen sein, dass all die Leute, die ihm Schlüsselstellungen verschafften, damit ihr eigenes Grab schaufelten.
Während er Wodka nachschenkte, hörte Hunt, wie seine drei Doktoranden ungelenk Konversation machten.
„Ich habe noch nie Wodka getrunken“, sagte Wera.
Jasper lachte: „Du musst ein sehr behütetes Leben geführt haben.“
David mischte sich ein. „Lass dich nicht provozieren. Jasper ist nicht so verrottet, wie er tut.“
„Ja, stimmt“, sagte Jasper, „ich bin der Gute hier. David ist sehr viel gefährlicher.“
Wera trank einen großen Schluck. „Er sieht nicht besonders gefährlich aus.“
„Alles Tarnung!“, meinte Jasper. „Seine großen melancholischen Augen täuschen. Er hat damit reihenweise Frauen reingelegt.“
Es war ein vielversprechender Anfang. Hunt wusste, die Dynamik zwischen seinen drei neuen Doktoranden könnte interessant werden. Da war zuerst einmal David, der in Cambridge aufgewachsen war und den Hunt am besten kannte. Er war der intellektuellste von den dreien, aber er neigte seit dem Tod seiner Mutter zu Stimmungsschwankungen. Wenn er seine starke Sensibilität richtig dosierte, könnte sie ihm helfen, das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen zu finden. Sie könnte ihn aber auch jederzeit abstürzen lassen.
Dann Jasper, das Gegenteil eines Melancholikers. Er sah genau so aus, wie man sich einen Kalifornier vorstellte - groß, blond, braun gebrannt und penetrant begeistert. Schlechte Tage schien es für Jasper nicht zu geben. Hunt hatte selbst einmal ein Freisemester in Kalifornien verbracht, aber die permanente Euphorie dort hatte ihn irritiert.