Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Die anderen Ruderinnen wurden sehr viel weniger angeschrien, und Wera fragte sich, ob sie wirklich so langsam war oder ob David sie aus unerklärlichen Gründen quälen wollte. Sie verstand auch nicht, warum ein Mann der Cox in einem Boot voller Frauen war. Es wäre ihr auf jeden Fall lieber gewesen, von einer Frau angeschrien zu werden als von einem Mann. Nachdem das Gebrüll endlich vorbei war und David das Training für beendet erklärt hatte, ordnete er auch noch an, dass die Mädchen das Boot aus dem Wasser tragen und putzen sollten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Wera bereits beschlossen, nie wieder zu rudern. Sie wollte nur noch zurück in ihr Zimmer und die durchgeschwitzten Sachen ausziehen. Aber natürlich kam David auf sie zu, gerade als sie auf ihr Fahrrad steigen wollte.
„Du willst schon gehen? Hat es dir nicht gefallen?“Sie konnte es nicht fassen. „Soll das ein Witz sein?“
„Okay, okay“, David lachte. „Ich war ein bisschen hart zu dir. Am Anfang ist es immer schwer, sich da reinzufinden. Nach einer Weile wird es dir großen Spaß machen.“
„Du musst ja nicht rudern“, meinte Wera. „Du sitzt nur da vorne und schreist rum.“
„Ich rudere bei der Männermannschaft mit. In der dritten Liga. Da werde ich von einer Frau angeschrien.“
„Schreien kannst du wie die erste Liga.“
Er reichte ihr seine Thermoskanne. „Der Tee wird dir guttun. Du siehst verfroren aus.“
„Rudert Polina nicht mit dir?“„Nein, sie lässt sich nicht gerne Anordnungen geben.“
Wera nickte. „Kann ich verstehen.“
„Hat dir wenigstens unser Archivtrip neulich etwas gebracht?“
Wera trank einen großen Schluck aus der Thermosflasche, bevor sie ihm antwortete. „Es waren ein paar gute Informationen aus den Dreißigerjahren über die Rekrutierung der Gruppe dabei. Der sowjetische Geheimdienst hat sich ganz gezielt junge Studenten ausgesucht.“
David nickte. „Studenten wie wir.“„Glaubst du, so etwas passiert heute noch?“
„Dass alle möglichen Nachrichtendienste Studenten rekrutieren? Ja, natürlich, und gleichzeitig werden Studenten auch immer wieder überwacht. Vor allem die islamischen Studentenclubs hier in Cambridge.“
Wera starrte auf den Fluss vor ihnen. „Im Kalten Krieg hatten sie die Russen im Visier und jetzt die Muslime?“
„Oder mittlerweile beide.“„Wieso beide?“
David ignorierte die Frage. „Weißt du, was dir helfen würde, Wera? Ein paar Übungsstunden am Ergometer. Dann würde ich dich auch nicht mehr so anschreien müssen. Es macht mir wirklich keinen Spaß.“
„Und ich dachte, du bist ein Sadist.“
David lachte und legte den Arm um ihre Schulter.
Es war ein gutes Gefühl.
31. Oktober 2014 Universitätsbibliothek Cambridge
Jasper war kein Junkie. Drogen nahm er nur an den Wochenenden. Er hatte mit diesem Rhythmus in der Highschool begonnen und hielt sich strikt daran. Unter der Woche arbeitete er, am Wochenende entspannte er sich. Die meisten seiner Freunde tranken zu viel, aber das war nicht sein Stil.