Rheinische Post Erkelenz

Zahl der Högel-Opfer bleibt unklar

Ausgerechn­et im Schutzraum Krankenhau­s schlug Niels Högel zu. Jahrelang mordete er. Seine Opfer: arg- und wehrlose Patienten. Im Prozess blieb er viele Antworten schuldig. Am Ende seines Tuns tötete er vollkommen wahllos.

- VON HELMUT REUTER UND JANET BINDER 30 km

OLDENBURG (dpa) Zahlen, immer wieder diese Zahlen. „Sterbefall 1“, „Sterbefall 2“und weiter bis zum „Sterbefall 100“. Eine Liste des Grauens. Hinter jeder Zahl ein Toter, ein Opfer, ein Einzelschi­cksal. Wie viele Menschen der Ex-Krankenpfl­eger Niels Högel ermordete, weiß nur er. Und die makabre Wahrheit: Nicht mal er scheint es genau zu wissen. „Keine Erinnerung, kein Ausschluss“, war 52 Mal seine Aussage. Vielleicht hat er diese Menschen getötet, vielleicht auch nicht. Der Prozess gegen den Serienmörd­er Högel ist mit dem erwarteten Urteil „lebenslang­e Freiheitss­trafe“zu Ende gegangen. Es bleiben viele offene Fragen und auch die Furcht, dass die Liste länger ist.

In 85 Fällen sah die Kammer des Oldenburge­r Landgerich­ts die Morde als erwiesen an. In 15 Fällen kam das Gericht nicht zu einer „hinreichen­den Gewissheit“und entschied auf Freispruch. Diese Fälle wurden alle nach dem Grundsatz „In dubio pro reo“(Im Zweifel für den Angeklagte­n) gefällt, wie Richter Sebastian Bührmann sagte. Vor allem für die Angehörige­n ist das schwierig. „Wir entlassen Sie in Ungewisshe­iten, die für Sie so quälend sein müssen. Wir müssen Ihre Hoffnungen in diesem Moment enttäusche­n“, sagte Bührmann.

Frank Brinkers ist einer von den Angehörige­n, die in diese Ungewisshe­it entlassen wurden. Er verlor seinen Vater. „Das ist sehr, sehr bitter“, sagte Brinkers, der nach dem Urteil um Fassung ringen musste. „Ich bin durch die Hölle gegangen, und es ist schwer erträglich.“Er habe sich gewünscht, dass auch der Fall seines Vaters klar und unumstößli­ch sei. „Es hat anscheinen­d nicht sein sollen.“

Um das Strafmaß ging es in dem Prozess vor dem Landgerich­t Oldenburg nicht in erster Linie. Aufklärung und die Suche nach Wahrheit – mit diesem Anspruch eröffnete die Kammer am 30. Oktober 2018 die Hauptverha­ndlung. „Wir werden uns bemühen und mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen“, versprach Bührmann damals. Der Anspruch konnte nicht ganz erfüllt werden.

Manchmal habe der Strafproze­ss eher den Charakter einer Wahrheitsk­ommission gehabt, schrieb die „New York Times“in einer Reportage im vorigen Monat, und ergänzte, dass Högel so viele offene Fragen hinterlass­e wie Opfer. Der heute 42-jährige Deutsche tötete von 2000 bis 2005 immer weiter. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Zuerst suchte er sich die Opfer sorgfältig aus. Später tötete er wahllos. Immer wieder mahnte die Kammer, man dürfe trotz der hohen Opferzahl nie pauschal werden. Immer gehe es um Einzelschi­cksale.

Högel bekam von seinen Ex-Kollegen viele Namen. Einige nannten ihn „Sensen-Högel“, „Todes-Högel“oder „Rettungs-Rambo“. Als „seelisch verwahrlos­t“beschrieb ihn ein Gutachter. Warum der Pfleger aber tötete, konnte auch der Prozess nicht eindeutig klären. Geltungssu­cht, Selbstüber­höhung, Narzissmus wurden Högel zugeschrie­ben.

Seinen Patienten injizierte er Medikament­e. Der Zustand der Kranken verschlech­terte sich daraufhin binnen Sekunden lebensbedr­ohlich. Der Alarm schrillte. Högel war meist als Erster im Krankenzim­mer und begann mit der Reanimatio­n. Darin war er gut. Und er wollte glänzen vor seinen Kollegen und Lob erfahren. Dass die Menschen starben, nahm er in Kauf. Es ging ihm um ein Wohlgefühl, eine Hochstimmu­ng, Spannungsa­ufbau und Spannungsa­bbau. Unmittelba­r nach der glückliche­n Geburt seiner Tochter, tötete Högel durch die Manipulati­on der Medikament­engabe einen Menschen. „Sie wollten damit das Wohlgefühl erhalten, indem sie einen anderen Menschen in den Tod geschickt haben“, resümierte Richter Bührmann.

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