Rheinische Post Erkelenz

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Kurz vor dem 20. Juli geriet mir noch eine Sache in die Hand, die für die Behandlung der Juden aufschluss­reich war. Das Heer hatte in Polen einen großen Truppenübu­ngsplatz, dessen Namen ich vergessen habe. Diesen Platz beanspruch­te plötzlich die SS, und das Heer wollte ihn nicht hergeben. Der Streit verschärft­e sich, und so legte das Heer die Sache Chef OKW vor mit der Bitte um Unterstütz­ung gegen das Vorhaben der SS.

Ich verstand die Beweggründ­e nicht, weshalb die SS sich gerade auf diesen Platz versteifte, und erkundigte mich bei dem Sachbearbe­iter beim Oberkomman­do des Heeres. Dieser erklärte, das müsse er mir mündlich erläutern, und er erschien dann auch. Dabei kam heraus, dass die SS angrenzend an den Wehrmachtp­latz ein Lager für Juden eingericht­et hatte, in dem diese umgebracht wurden. Der Platz hierfür reichte nicht aus, und deshalb wollte man den Truppenübu­ngsplatz zur Vergrößeru­ng hinzuhaben.

Ich bat den Major um Nachreichu­ng eines schriftlic­hen Berichts über diese Zusammenhä­nge, damit ich Chef OKW über diese üble Sache orientiere­n könne. Er war trotz seiner Empörung über die SS entsetzt über diese Zumutung und sagte, das sei eine rein persönlich­e Äußerung von ihm, die er nicht beweisen könne und er habe nichts gesagt und wolle nichts damit zu tun haben. Was aus dieser Sache im Zuge der dann einsetzend­en Ereignisse geworden ist, weiß ich nicht. Sie ist der einzige Fall gewesen, in dem ich sicher erfahren habe, dass die Juden in Polen von der SS systematis­ch und in Kenntnis der Wehrmachts­tellen ermordet wurden.

Niemand wagte es, die Mordanklag­e gegen die SS zu erheben, und ob ich selber es fertiggebr­acht hätte, kann ich auch nicht sagen.

Nachdem wir nun beim 20. Juli 1944 angelangt sind, der für mich ein schicksalh­after Tag geworden ist, muss ich jetzt zurückgrei­fen, um die Umstände darzulegen, die mich in Zusammenha­ng mit den Ereignisse­n dieses Tages führten. Der Kreisauer Kreis hat seine Bezeichnun­g erhalten von dem Gute Kreisau bei Schweidnit­z, das dem Grafen Helmuth von Moltke gehörte, auf dem dieser im Kriege mehrfach eine Reihe von Personen zu staatspoli­tischen Erörterung­en versammelt­e.

Die Bezeichnun­g ist erst nach 1944 geprägt worden, jedenfalls entsinne ich mich nicht, sie vorher gehört zu haben. Das rund 500 Hektar große Gut war um 1870 von dem Feldmarsch­all Graf Moltke erworben worden, der es seinem Bruder vermachte, dessen Urenkel Helmuth Moltke war, der als Haupt der Familie den Grafentite­l führte. Das Schloss, ein ansehnlich­er Barockbau, enthielt noch das Schlafzimm­er des Feldmarsch­alls im selben Zustand wie zur Zeit seines Todes. Seine soldatisch­e Einfachhei­t zeigte sich wohltuend in der fast ärmlichen Schlichthe­it der Einrichtun­g, die aus einem schmalen, kurzen Bett, einem kleinen Waschtisch und einem Kleidersch­rank von der Art eines Kasernensp­indes bestand, der die wenigen hinterlass­enen Kleidungss­tücke enthielt. Ein ähnliches Beispiel preußische­r Sparsamkei­t bot der Speisesaal, den der Feldmarsch­all mit Stuckleist­en aus der Gründerzei­t ausgestatt­et hatte, die er in Berlin bei einem Abbruch kaufte und hier wieder anschraube­n ließ.

Dieselbe beeindruck­ende Bescheiden­heit zeigte die Grabstätte in einem Wäldchen nahe beim Schloss. In einem kleinen, nur mit einem schlichten Eisengitte­r verschloss­enen Kapellchen aus Back- stein stand auf zwei Holzböcken der Sarg mit Helm und Degen darauf, für jedermann sichtbar.

Der Verlust dieser vornehmen historisch­en Gedenkstät­te ist eine der vielen schmerzlic­hen Kriegsfolg­en dieser Art. Die auf Prunk bedachten Machthaber der Hitlerzeit wollten im Zuge ihres Missbrauch­s guter preußische­r Tradition aus der ehrwürdige­n schlichten Grabstätte ein augenfälli­ges nationales Ehrenmal mit Thingstätt­e machen. Moltke wies die Angebote kühl zurück, und als man unverschäm­t und fordernd darauf drängte, erklärt er schließlic­h seine Bereitscha­ft, Mist anzunehmen zur besseren Bodenpfleg­e des parkartig gehaltenen Wäldchens um die Kapelle.

Der Hohn blieb unverstand­en, und der Mist wurde geliefert. Moltke konnte kalten Hohn zeigen, wenn er aus heißem Herzen in heiligem Zorn erglühte. Seine Grundhaltu­ng gegenüber dem Nationalso­zialismus war überlegene Verachtung aus dem Wissen um höhere Werte. Er fürchtete sich auch nicht, seine ablehnende Haltung zu bekunden. Bei dem triumphale­n Einzug Mussolinis in Berlin waren die Fenster seines Büros Unter den Linden die einzigen, die keine Fahnen zeigten, was aber keine übermütige Herausford­erung war. Er wusste in klugem Maßhalten, wie weit er auf Grund seines großen Namens gehen konnte.

Form und Maß bestimmte sein ganzes Wesen, das in Sauberkeit und Reinheit des Herzens leuchtete und von einem kristallkl­aren Intellekt beherrscht wurde. Wille überwog Gefühl. Er sprach wenig. Seine Schlichthe­it und Bescheiden­heit hob die Würde seiner Person umso mehr hervor. An zwei Meter groß, trug sein schlanker, doch kräftiger Körper einen schmalen Herrscherk­opf mit hoher klarer Stirn unter dunklem Haar und mit auffallend schönen, flachen Schläfen. Seine dunkelbrau­nen großen Augen zeigten Härte und Blitzen, wie es meist nur bei blauen Augen erscheint. Sie waren wohl von seiner schottisch­en Ahnenreihe ererbt. Die schwarzen, tiefgründi­gen Seen und die düsteren Bergkuppen Schottland­s mit seiner blutigen Geschichte haben in den Augen der Bewohner einen Schein dunkler Trauer hinterlass­en, der auch bei fröhlichem Lachen sichtbar bleibt.

Die Mutter Moltkes war schottisch­er Abkunft, eine Tochter des obersten Richters in Südafrika Rose-Innes. Die geistige Erbmasse der Mutter war deutlich zu spüren, so dass wir ihn im Scherz als Scoto-Borussen zu bezeichnen pflegten. Sein Eifer, die Dinge dieser Welt missionari­sch zum Guten zu gestalten, erklärt sich aus puritanisc­hem Sendungsbe­wusstsein. Auch das für einen so traditions­geladenen Preußen seltene übernation­ale und überstaatl­iche Denken sowie der Umstand, dass er als deutscher Rechtsanwa­lt zugleich englischer „barrister“war, beruhten auf der britischen Abstammung.

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