Als der Wagen nicht kam
Kurz vor dem 20. Juli geriet mir noch eine Sache in die Hand, die für die Behandlung der Juden aufschlussreich war. Das Heer hatte in Polen einen großen Truppenübungsplatz, dessen Namen ich vergessen habe. Diesen Platz beanspruchte plötzlich die SS, und das Heer wollte ihn nicht hergeben. Der Streit verschärfte sich, und so legte das Heer die Sache Chef OKW vor mit der Bitte um Unterstützung gegen das Vorhaben der SS.
Ich verstand die Beweggründe nicht, weshalb die SS sich gerade auf diesen Platz versteifte, und erkundigte mich bei dem Sachbearbeiter beim Oberkommando des Heeres. Dieser erklärte, das müsse er mir mündlich erläutern, und er erschien dann auch. Dabei kam heraus, dass die SS angrenzend an den Wehrmachtplatz ein Lager für Juden eingerichtet hatte, in dem diese umgebracht wurden. Der Platz hierfür reichte nicht aus, und deshalb wollte man den Truppenübungsplatz zur Vergrößerung hinzuhaben.
Ich bat den Major um Nachreichung eines schriftlichen Berichts über diese Zusammenhänge, damit ich Chef OKW über diese üble Sache orientieren könne. Er war trotz seiner Empörung über die SS entsetzt über diese Zumutung und sagte, das sei eine rein persönliche Äußerung von ihm, die er nicht beweisen könne und er habe nichts gesagt und wolle nichts damit zu tun haben. Was aus dieser Sache im Zuge der dann einsetzenden Ereignisse geworden ist, weiß ich nicht. Sie ist der einzige Fall gewesen, in dem ich sicher erfahren habe, dass die Juden in Polen von der SS systematisch und in Kenntnis der Wehrmachtstellen ermordet wurden.
Niemand wagte es, die Mordanklage gegen die SS zu erheben, und ob ich selber es fertiggebracht hätte, kann ich auch nicht sagen.
Nachdem wir nun beim 20. Juli 1944 angelangt sind, der für mich ein schicksalhafter Tag geworden ist, muss ich jetzt zurückgreifen, um die Umstände darzulegen, die mich in Zusammenhang mit den Ereignissen dieses Tages führten. Der Kreisauer Kreis hat seine Bezeichnung erhalten von dem Gute Kreisau bei Schweidnitz, das dem Grafen Helmuth von Moltke gehörte, auf dem dieser im Kriege mehrfach eine Reihe von Personen zu staatspolitischen Erörterungen versammelte.
Die Bezeichnung ist erst nach 1944 geprägt worden, jedenfalls entsinne ich mich nicht, sie vorher gehört zu haben. Das rund 500 Hektar große Gut war um 1870 von dem Feldmarschall Graf Moltke erworben worden, der es seinem Bruder vermachte, dessen Urenkel Helmuth Moltke war, der als Haupt der Familie den Grafentitel führte. Das Schloss, ein ansehnlicher Barockbau, enthielt noch das Schlafzimmer des Feldmarschalls im selben Zustand wie zur Zeit seines Todes. Seine soldatische Einfachheit zeigte sich wohltuend in der fast ärmlichen Schlichtheit der Einrichtung, die aus einem schmalen, kurzen Bett, einem kleinen Waschtisch und einem Kleiderschrank von der Art eines Kasernenspindes bestand, der die wenigen hinterlassenen Kleidungsstücke enthielt. Ein ähnliches Beispiel preußischer Sparsamkeit bot der Speisesaal, den der Feldmarschall mit Stuckleisten aus der Gründerzeit ausgestattet hatte, die er in Berlin bei einem Abbruch kaufte und hier wieder anschrauben ließ.
Dieselbe beeindruckende Bescheidenheit zeigte die Grabstätte in einem Wäldchen nahe beim Schloss. In einem kleinen, nur mit einem schlichten Eisengitter verschlossenen Kapellchen aus Back- stein stand auf zwei Holzböcken der Sarg mit Helm und Degen darauf, für jedermann sichtbar.
Der Verlust dieser vornehmen historischen Gedenkstätte ist eine der vielen schmerzlichen Kriegsfolgen dieser Art. Die auf Prunk bedachten Machthaber der Hitlerzeit wollten im Zuge ihres Missbrauchs guter preußischer Tradition aus der ehrwürdigen schlichten Grabstätte ein augenfälliges nationales Ehrenmal mit Thingstätte machen. Moltke wies die Angebote kühl zurück, und als man unverschämt und fordernd darauf drängte, erklärt er schließlich seine Bereitschaft, Mist anzunehmen zur besseren Bodenpflege des parkartig gehaltenen Wäldchens um die Kapelle.
Der Hohn blieb unverstanden, und der Mist wurde geliefert. Moltke konnte kalten Hohn zeigen, wenn er aus heißem Herzen in heiligem Zorn erglühte. Seine Grundhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus war überlegene Verachtung aus dem Wissen um höhere Werte. Er fürchtete sich auch nicht, seine ablehnende Haltung zu bekunden. Bei dem triumphalen Einzug Mussolinis in Berlin waren die Fenster seines Büros Unter den Linden die einzigen, die keine Fahnen zeigten, was aber keine übermütige Herausforderung war. Er wusste in klugem Maßhalten, wie weit er auf Grund seines großen Namens gehen konnte.
Form und Maß bestimmte sein ganzes Wesen, das in Sauberkeit und Reinheit des Herzens leuchtete und von einem kristallklaren Intellekt beherrscht wurde. Wille überwog Gefühl. Er sprach wenig. Seine Schlichtheit und Bescheidenheit hob die Würde seiner Person umso mehr hervor. An zwei Meter groß, trug sein schlanker, doch kräftiger Körper einen schmalen Herrscherkopf mit hoher klarer Stirn unter dunklem Haar und mit auffallend schönen, flachen Schläfen. Seine dunkelbraunen großen Augen zeigten Härte und Blitzen, wie es meist nur bei blauen Augen erscheint. Sie waren wohl von seiner schottischen Ahnenreihe ererbt. Die schwarzen, tiefgründigen Seen und die düsteren Bergkuppen Schottlands mit seiner blutigen Geschichte haben in den Augen der Bewohner einen Schein dunkler Trauer hinterlassen, der auch bei fröhlichem Lachen sichtbar bleibt.
Die Mutter Moltkes war schottischer Abkunft, eine Tochter des obersten Richters in Südafrika Rose-Innes. Die geistige Erbmasse der Mutter war deutlich zu spüren, so dass wir ihn im Scherz als Scoto-Borussen zu bezeichnen pflegten. Sein Eifer, die Dinge dieser Welt missionarisch zum Guten zu gestalten, erklärt sich aus puritanischem Sendungsbewusstsein. Auch das für einen so traditionsgeladenen Preußen seltene übernationale und überstaatliche Denken sowie der Umstand, dass er als deutscher Rechtsanwalt zugleich englischer „barrister“war, beruhten auf der britischen Abstammung.