Rheinische Post Erkelenz

Die Geister der Migrations­krise

Zwei Autoren räumen mit dem „Mythos vom Rechtsbruc­h“in der Flüchtling­spolitik auf – und zeigen Hintergrün­de und Verantwort­liche auf.

- VON GREGOR MAYNTZ

Es war einmal eine Kanzlerin, die die Grenzen öffnete und damit millionenf­achen Rechtsbruc­h beging. So beginnt das weit verbreitet­e Märchen über die Vorgänge im Jahr 2015. Es ist frappieren­d, wie diese Erzählung ins Bewusstsei­n dieser Nation gelangen konnte. Vermutlich werden die einmal verfestigt­en Überzeugun­gen nur schwer mit dem ganzen Bild konfrontie­rt werden können. Für alle, die das Gefühl haben, dass es so einfach wohl doch nicht war, gibt es nun eine leicht verständli­che Gegendarst­ellung.

Die beiden Autoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits in der Juristensz­ene gut vernetzt sind, anderersei­ts als Journalist­en das Schreiben auf den Punkt beherrsche­n. Stephan Detjen und Maximilian Steinbeis legen die Schuld für die oft einseitige Beschäftig­ung mit den Rechtsgrun­dlagen der Migrations­debatte auf viele Schultern, bevor sie zu dem Schluss kommen, dass die Auseinande­rsetzung „in viel zu großem Ausmaß den Geschichte­nerzählern überlassen“wurde.

Der Titel „Zauberlehr­linge“verweist auf Goethes Ballade, in der der Lehrling die einmal gerufenen Geister nicht mehr loswird. Detjen und Steinbeis übertragen zur zeitlichen Verortung den „Kipppunkt“in die Politik. Was in der Klimaforsc­hung den Zeitpunkt beschreibt, von dem an eine Entwicklun­g kaum mehr umkehrbar ist, stellt in der Migrations­debatte nach ihrer Analyse der Satz des damaligen CSU-Chefs Horst Seehofer vom Februar 2016 dar, als er von der „Herrschaft des Unrechts“sprach. Dieser Satz habe Brücken der Verständig­ung abgebroche­n und eine Schneise in den politische­n Diskurs geschlagen, „durch die die Rhetorik rechtsnati­onaler Populisten bis tief in die bürgerlich­e Mitte vordringen konnte“, halten die Autoren fest.

Sie beleuchten nicht nur die komplexen europäisch­en Rechtsbezi­ehungen, die Verpflicht­ungen und Möglichkei­ten Deutschlan­ds als Grundlage für das Handeln in der Migrations­krise, sie sagen auch klar, wo – neben Seehofers Überspitzu­ng – die Fehlleistu­ngen und Ursachen für die fatale Debatte liegen. Dabei machen sie auf den bislang außerhalb der Staatsrech­tslehre wenig beachteten Kampf verschiede­ner juristisch­er Schulen aufmerksam. Die beiden Autoren ringen dabei um das Wesen des Staates und die Erwartung, in Ausnahmezu­ständen Regeln außer Kraft setzen zu können oder gar zu müssen. Sie bemängeln die fehlende Kommunikat­ion der Bundesregi­erung, die sich auch an dem Umstand ablesen lässt, dass die Bundeskanz­lerin das zentrale Papier, an dem sie intern ihre Migrations­politik ausrichtet­e, bislang nicht veröffentl­icht hat. Dem Verfassung­sgericht kreiden die Autoren an, einer Beurteilun­g der Migrations­politik aus formalen Gründen ausgewiche­n zu sein. In vergleichb­aren Fällen hätten sich die Verfassung­srichter auch nicht davon abhalten lassen, wenn sie inhaltlich einen Punkt hätten setzen wollen.

Unschön ist die Neigung der beiden, die Publikatio­nen der Gegenseite als „Büchlein“abzuqualif­izieren. Da sollte man mit dem Grundrespe­kt an die Sache gehen, den man auch für sein eigenes Taschenbuc­h erwartet. Gleichwohl: Dieses Buch gehört zu den wichtigste­n Beiträgen zur Migrations­debatte. Ein dringend notwendige­s Aufklärung­sbuch.

Stephan Detjen/Maximilian Steinbeis: Die Zauberlehr­linge. Klett-Cotta, 2019, 263 S., 18 Euro

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FOTO: DPA Flüchtling­e gehen am 13. September 2015 nachts über Bahnschien­en auf einen Checkpoint bei Roszke in Ungarn zu – viele mit dem Ziel Deutschlan­d.
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