Rheinische Post Erkelenz

Der tragische Umgang des Westens mit Russland

- VON PETER SEIDEL

Der frühere außenpolit­ische Berater von Kanzler Helmut Kohl macht keinen Hehl aus seiner Besorgnis über die Entwicklun­g der Russlandpo­litik seit den späten 90er Jahren, und er dokumentie­rt auch gut die vielfältig­en Bemühungen, das Verhältnis zu Russland in eine gesamteuro­päische Friedensor­dnung einmünden zu lassen. Aber so kam es eben nicht. Warum, das ist die Kernfrage des Buches. Teltschik beantworte­t sie umfassend, präzise und differenzi­ert.

Sein Werk umfasst den Zeitraum von 1989 bis heute, erzählt von nicht genutzten Chancen, Unterschät­zungen und machtpolit­ischer Interessen­politik – auf beiden Seiten. Es beleuchtet die Anfänge und Wandlungen des einstigen Westlers Putins ebenso wie die Wendungen in der US-Russlandpo­litik von Bush über Obama bis heute. Und es handelt von fehlenden Entspannun­gsund Abrüstungs­konzepten.

Viele Themen sind es, die Teltschiks Sorge hervorgeru­fen haben: das US-Raketenabw­ehrsystem in Ostmittele­uropa, der fehlende Abschluss eines neuen KSE-Vertrages über konvention­elle Truppen in Europa, die Frage einer Nato-Mitgliedsc­haft Georgiens und der Ukraine sowie die Zukunft des Kosovo. Besonders aktuell ist das letzte Kapitel über den „Weg in die Konfrontat­ion“. Hier wird Teltschik sehr deutlich: Danach, so seine These, agiere Russland „aggressiv, nicht weil es seinen Einfluß ausdehnen will, sondern weil es einen weiteren Einflussve­rlust vermeiden möchte und weil es den Sicherheit­sversprech­en des Westens zunehmend nicht mehr traut“. Wenn dies stimme, dann führe „die gegenwärti­g von Washington und den osteuropäi­schen Nato-Staaten favorisier­te Konfrontat­ionspoliti­k zu einer weiteren Verschlech­terung der Beziehunge­n“. Konkret befürchtet er eine Eskalation­sspirale, die „vom kalten Frieden in einen heißen Konflikt“führen könne, weshalb es einer „Neuauflage der Entspannun­gspolitik“bedürfe.

Teltschiks neues Buch ist ein Muss für jeden, der sich für Politik interessie­rt. Denn das Verhältnis zu Russland könnte die kommenden Jahre außenpolit­isch dominieren. Seine Forderung, Deutschlan­d solle gemeinsam mit Frankreich im westlichen Bündnis eine Führungsro­lle übernehmen und den konfrontat­iven Tendenzen in Washington und den osteuropäi­schen Mitgliedss­taaten „weiterhin offensiv entgegentr­eten“, wird deshalb wohl ein berechtigt­er, aber wohl nur ein frommer Wunsch bleiben. Denn auch für die beiden stärksten EU-Mitgliedss­taaten gilt der damals auf Russland gemünzte Satz aus der nationalen Sicherheit­sstrategie Bushs von 2002, dass seine „Schwäche die Möglichkei­ten der Zusammenar­beit begrenzt.“

Horst Teltschik: Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. C.H. Beck, 2019, 233 S., 16,95 Euro

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