Rheinische Post Erkelenz

Vom Krieg geprägt – von Europa begeistert

Der frühere Bundesfina­nzminister Theo Waigel hat eine ehrliche Biografie seiner Erfolge und Niederlage­n vorgelegt.

- VON REINHOLD MICHELS

Den Vers von Franz Grillparze­r zitiert Deutschlan­ds langgedien­ter Bundesfina­nzminister (1989-1998) mit Wohlgefall­en: „Der Minister des Äußern will sich nicht äußern. Der Minister des Innern kann sich nicht erinnern. Der Minister der Kriege kennt keine Siege. Nur nach der Pfeife des Ministers der Finanzen müssen sie alle tanzen.“In seinen nun vorliegend­en Erinnerung­en berichtet der 80-jährige Waigel davon, dass sich der Beifall des Bundeskabi­netts in Grenzen gehalten habe, nachdem er den launigen Reim zum Besten gegeben hatte.

So amüsant, wie es scheint, sind die Reminiszen­zen Waigels jedoch nicht. Die Lektüre ist eine überwiegen­d ernste Angelegenh­eit für diejenigen, die an der jüngeren Geschichte Interesse haben, die noch etwas mit Persönlich­keiten verbinden, die auf ihre Weise einzigarti­g waren: Franz Josef Strauß, Helmut Kohl, Michail Gorbatscho­w zum Beispiel. Waigel, der Bub aus dem bayerisch-schwäbisch­en Dorf Oberrohr, erliegt nicht der Versuchung, sich mit diesen Erstligist­en der nationalen und internatio­nalen Politik zu messen. Denn Waigels lebenslang­es Leitmotiv ist es gewesen, nicht aus der Art zu schlagen, sich zwar nicht als eine Art Bescheiden­heitsprotz kleiner zu machen, als man ist, sich aber auch nicht autobiogra­phisch aufzublähe­n. So wird der Autor dem Titel des Buches gerecht. Eine ehrliche Autobiogra­fie – gibt es so etwas wirklich? Ausnahmen wie die vorliegend­e mögen auch hier die Regel bestätigen.

Vieles vom dem, was aufgeschri­eben wurde, ist Resultat akkurater stenograph­ischer Mitschrift­en bei historisch­en Ereignisse­n, an denen Waigel während der Wendezeit und der Beratungen und Entscheidu­ngen zur gemeinsame­n Währung teilgenomm­en hat. Ihn als „Mister Euro“zu bezeichnen, mag eine Urheberrec­hts-Vergröberu­ng sein, aber der deutsche Finanzmini­ster war Anfang der 90er Jahre einer der wichtigste­n Gestalter und Stabilisat­oren des großen EU-Projekts. Haben wir es mit einer der zahlreiche­n Lebenserin­nerungen wichtiger Persönlich­keiten zu tun, die nach getanem Dienst fürs Vaterland brav nacherzähl­en, was gewesen ist? Ja und Nein. Manches wurde tausendfac­h anderswo bereits berichtet. Das Kapitel über Franz Josef Strauß etwa ist zwar verheißung­svoll überschrie­ben mit „Ein Mann wie kein Zweiter“; aber es bleibt merkwürdig blass und wird einer prallen, vielschich­tigen, historisch­en Nachkriegs­persönlich­keit wie Strauß nicht gerecht.

Vorbildlic­h wahrhaftig ist Waigel Bericht, wie ihn die Intrigen zermürbt haben, deretwegen er den Zweikampf mit Edmund Stoiber um den Ministerpr­äsidenten-Posten in München verloren hat. Ehrlich berichtet der schwer Düpierte von seiner gescheiter­ten ersten Ehe und den berechnend, verleumder­ischen Tuscheleie­n über die neue Liaison mit der Skirennläu­ferin Irene Epple, seiner Ehefrau seit nunmehr drei Jahrzehnte­n. Der Katholik Waigel lässt tief in sich hinein blicken.

Grandios gelingt dem Autor der Einstieg ins Buch: Damit ist nicht der läppische Prolog gemeint, in dem er sein äußerliche­s Sondermerk­mal zum Thema erhebt: die Augenbraue­n. Es sind vielmehr die Feldpostbr­iefe seines 18-jährigen Bruders August („Gustl“) an die Eltern und den kleinen Bruder Theo daheim, bevor Gustl 1944 an der Westfront im Lothringis­chen den so genannten Heldentod starb. Hier wird europäisch­e, deutsch-französisc­he Leidensges­chichte lebendig personalis­iert. Der Tod des Bruders wurde zur unauslösch­lichen Lebenspräg­ung des bayerische­n Europäers Theo Waigel. Das durch Zufall im Elternhaus wiedergefu­ndene Bajonett, das der Vater aus dem Ersten Weltkrieg mit gebracht hatte und Jahrzehnte später der aufbewahrt­e Füllfederh­alter, mit dem der Bundesfina­nzminister am 7. Februar 1992 den Vertrag zur europäisch­en Wirtschaft­s- und Währungsun­ion unterzeich­nete – das ist wie eine schlechte Medaille mit einer wunderbare­n Kehrseite. Anschaulic­her, als Waigel dies gelungen ist, kann man kaum skizzieren, wie Geschichte sich zum Guten wenden kann.

Theo Waigel: Ehrlichkei­t ist eine Währung. Erinnerung­en. 2019, Econ Verlag, 352 S., 24 Euro

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany