Familie auf Zeit
Bereitschaftspflegefamilien springen ein, wenn Kinder vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden. Eigentlich für kurze Zeit, aber das funktioniert oft nicht. Emotional ist das nicht einfach – für Kinder und Pflegeeltern.
JÜCHEN Wenn ein Kind zum ersten Mal Mama oder Papa sagt, ist das für Eltern ein Grund zur Freude. Bei Leon*, zwei Jahre alt, war es vor einigen Monaten so weit. Regina Meier konnte sich darüber allerdings nicht unbedingt freuen. Denn Leon ist nicht ihr Sohn. Die vierköpfige Familie aus Jüchen nimmt seit vier Jahren Kinder bei sich auf, die das Jugendamt im Rahmen vorübergehender Schutzmaßnahmen aus ihren Familien holt. Eines dieser Kinder ist Leon. Seit er sechs Monate alt ist, lebt er bei Familie Meier. Was der Grund dafür war, dass er nicht bei seinen Eltern leben kann, darf Regina Meier nicht sagen. Nur so viel: „Es war schlimm.“
An einem kühlen Morgen im Frühjahr tobt Leon im Wintergarten herum, lacht, spielt mit Duplo-Steinen – und kuschelt sich zwischendurch immer wieder an die 41-Jährige. Eigentlich hieß es, dass Leon nur zwei bis vier Monate bleiben sollte. Inzwischen sind anderthalb Jahre daraus geworden.
Das komme immer öfter vor, sagt Meier, die Jugendämter hätten zu wenig Personal, um die Vielzahl von Kinder- und Jugendhilfefällen zu bearbeiten. Seit 2009 ist die Zahl der Fälle, in denen NRW-Jugendämter Hilfen zur Erziehung leisten müssen, um 20 Prozent angestiegen. 2017 waren es einem Report der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der Technischen Universität Dortmund zufolge rund 251.000. Bei Leon ist es so, dass die Eltern den Jungen nicht abgeben wollen, das Jugendamt sie aber nicht in der Lage sieht, für ihn zu sorgen. Das Verfahren beim Familiengericht läuft noch, „Ende nicht absehbar“, sagt Meier.
Darauf ist das System eigentlich nicht ausgelegt. Das Jugendamt darf Kinder und Jugendliche nur dann aus ihren Familien nehmen, wenn nach Paragraf 42 des Strafgesetzbuches eine „dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen“besteht – oder die Minderjährigen selbst darum bitten. Die Gründe können vielfältig sein: Überforderung, psychische Probleme, Alkoholoder Drogensucht – aber auch kurzfristige Krisen wie ein Krankenhausaufenthalt. Die Kinder werden vom Jugendamt entweder in Heimen oder in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht. In Familien kommen dem Sozialpädagogen Thomas Mühlmann von der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik zufolge vor allem Kinder unter drei Jahren. Der Zeitraum ist zwar vorher oft nicht absehbar, sagt ein Sprecher des NRW-Familienministeriums – es sei aber nicht vorgesehen und gewollt, „dass das Kind oder die Kinder zu den Pflegeeltern eine tiefere emotionale Beziehung aufbauen“.
Für Regina Meier, deren Familie in den vergangenen vier Jahren fünf Kinder betreut hat, heißt das, dass diese eigentlich maximal sechs bis neun Monate bleiben dürften. „Es ist sonst einfach nicht möglich, keine enge Bindung aufzubauen“, sagt Meier. Trotzdem versuchen sie und ihre Familie, sich abzugrenzen. Wenn Leon „Mama“sagt, verbessert sie ihn, sagt ihren Vornamen. Ein Mal im Monat nimmt sie sich mit ihrem Mann am Wochenende einen Abend frei, dann kommt eine Kinderfrau. Und regelmäßig machen sie Ausflüge nur zu viert, vor Kurzem ging es für einen Tag ins Phantasialand. „Manchmal braucht man auch einfach Zeit für sich“, sagt Meier.
Ein Kind in Bereitschaftspflege zu nehmen, ist ein Vollzeitjob. Die Familien müssen dem NRW-Familienministerium zufolge rund um die Uhr befähigt sein, Kinder aufzunehmen. Zuvor durchlaufen sie eine Prüfung durch das Jugendamt oder einen freien Träger. Sechs Monate dauert das, neben Gesprächen und Hausbesuchen musste Familie Meier ihre Finanzen offenlegen, polizeiliche Führungs- und Gesundheitszeugnisse abgeben und einen Erste-Hilfe-Kursus machen. Im Haus der Familie ist ein Zimmer mit zwei Betten für die Pflegekinder reserviert. Das Zimmer liegt neben dem Elternschlafzimmer, die eigenen Kinder der Meiers haben eine Etage für sich. „Das Familienleben ist nicht mehr frei und selbstbestimmt“, sagt Regina Meier. Nur drei Personen – sie, ihr Mann und die Kinderfrau – dürfen auf die Pflegekinder aufpassen, „es gibt keine Urlaube und keine Wochenenden mehr alleine“. Meier hat ihren Job als kaufmännische Angestellte gekündigt, ist seitdem Vollzeit-Pflegemutter. Dafür gibt es eine Aufwandsentschädigung und Pflegegeld, das die Ausgaben für das Kind abdecken soll. Ein Gehalt ersetzt das nicht.
„Man muss eben mit dem Herzen dabei sein“, sagt Meier schlicht. Ihren eigenen Kindern hätten sie das vor einigen Jahren so erklärt: „Es gibt Eltern, die können nicht für ihre Kinder da sein, aber wir können das.“Auch bei Kindern, die teilweise schwer traumatisiert sind. Ein Kind, erzählt Meier, habe drei Wochen lang kein Wort gesprochen, ein anderes habe fünf Monate lang jede Nacht geschrien. „Sie bringen einen Rucksack an Leid mit“, sagt Meier, „damit muss man als Familie umgehen können.“Regelmäßig tauscht sie sich mit einer Supervisorin des Trägers aus, Gespräche mit anderen Pflegemüttern und einem Psychologen sind jederzeit möglich.
Vorwürfe macht sie den Eltern der Kinder nicht. „Ich begegne den Eltern mit Empathie“, sagt Meier, „was auch wichtig ist, um die Besuchskontakte begleiten zu können.“Für eine Stunde in der Woche treffen die Kinder ihre leiblichen Eltern, etwa zum Spielen in Räumen des Trägers oder des Jugendamtes. Zudem sei es außer in Fällen schwerer Misshandlungen oder sexuellen Missbrauchs Ziel, dass das Kind wieder zu seinen Eltern zurückgeht. Für Meier ist wichtig zu schauen, was dem Kind gut tut. Das fängt oft bei Grundlegendem an: ein geregelter Tagesablauf, regelmäßige warme Mahlzeiten, Vertrauen aufbauen.
Bei Leon hat all das funktioniert – eigentlich beinahe zu gut. Immer wieder, sagt Meier, kommt es vor, dass aus einer Bereitschaftspflege eine Dauerpflege wird. Das haben die 41-Jährige und ihr Mann aber von Anfang an ausgeschlossen. Und dabei wollen sie bleiben. Auch wenn Leon eigentlich keine andere Familie kennt. Als Meier das sagt, hat sie Tränen in den Augen. An der Wand im Wohnzimmer hängen Familienfotos der Meiers, auf einem Regalbrett sind Fotos der Pflegekinder aufgereiht. Leon ist noch nicht darunter. „Jeder Abschied ist schwer“, sagt Meier.
Die Familie hat sich Rituale überlegt, um diesen zu erleichtern, einen Ausflug in der letzten Woche, Geschenke, ein Fotobuch für das Kind und seine Eltern. „Wenn Kinder so lange da sind, werden sie Teil der Familie“, sagt sie, „auch bei Großeltern, Tanten, Onkeln.“Auch diesen falle es jedes Mal schwer, wenn ein Kind gehe. Immer wieder werde sie gefragt, wie sie das aushalte, die Nähe, das Abschiednehmen. „Dabei zeigt das doch eigentlich die besondere Stärke, das große Herz“, sagt sie und streckt den Rücken durch, „die Kinder lieben zu lernen und trotzdem wieder gehen zu lassen“.
Bei Leon wird ihr das dennoch besonders schwer fallen. Drei Viertel seines kurzen Lebens hat er bei den Meiers verbracht. „Ich werde Rotz und Wasser heulen“, sagt Regina Meier – und ist dennoch überzeugt, das Richtige zu tun. Am Ende blieben viele schöne Erinnerungen, sagt sie, „und das Gefühl, dem Kind etwas Gutes getan zu haben“.
Bis zum Herbst hofft die Familie auf eine Entscheidung des Familiengerichts. Eine Winterjacke für Leon hat Regina Meier aber schon einmal gekauft.
*alle Namen geändert