Rheinische Post Erkelenz

Dreimal durch den Schredder

Ein enger Vertrauter des österreich­ischen Ex-Bundeskanz­lers Sebastian Kurz hat angeblich kurz nach Publikwerd­en des Ibiza-Videos fünf Festplatte­n schreddern lassen. Die politische­n Gegner wittern Morgenluft.

- VON RUDOLF GRUBER

WIEN Wenn Österreich­er auf Unfassbare­s stoßen, rufen sie gern: „Bist du deppert?“Aktueller Anlass ist die sogenannte Schreddera­ffäre, die seit Tagen immer neue, eben reichlich deppert anmutende Details aus dem Umfeld des gestürzten Kanzlers Sebastian Kurz zutage fördert. Im Visier steht ein offenbar übereifrig­er und zugleich überforder­ter enger Vertrauter von Kurz namens Arno M., der die Social-Media-Abteilung im Kanzleramt leitete.

Am 23. Mai tauchte M. bei der Firma Reisswolf auf, um Datenträge­r schreddern zu lassen. Die Wiener Stadtzeitu­ng „Falter“berichtet in der jüngsten Ausgabe, dass nicht nur eine, wie ursprüngli­ch angenommen, sondern fünf Drucker-Festplatte­n gelöscht worden seien. Über die Brisanz des Inhalts schießen die Spekulatio­nen ins Kraut. Davon hätte die Öffentlich­keit vermutlich nie etwas erfahren, hätte M. nicht fatale Fehler gemacht.

Wie „deppert“muss man sein, fragt man sich jetzt in Österreich, bei der Schredderf­irma einen falschen Namen und eine falsche Adresse anzugeben, aber seine korrekte Handynumme­r zu hinterlass­en und danach zu vergessen, eine Rechnung über 76 Euro zu begleichen? Die Geschäftsf­ührung forschte den Namen des merkwürdig­en Auftraggeb­ers aus. Geschäftsf­ührer Siegfried Schmedler sagte dem „Falter“, ein Firmenmita­rbeiter habe M. Tage später im Fernsehen wiedererka­nnt, hinter Kurz stehend, der gerade vor Anhängern seinen Rücktritt bekanntgab. Da sei ihm, Schmedler, die Sache derart verdächtig erschienen, dass er bei der Korruption­sstaatsanw­altschaft Anzeige erstattet habe.

Kurz, der sich derzeit in den USA aufhält, versuchte, die Datenschre­dderei als „üblichen Vorgang“bei einem Regierungs­wechsel kleinzured­en. Doch viele Details widersprec­hen dieser Deutung. Schmedler sagte auch, es sei ihm „noch nie passiert“, dass sich ein Kunde so nervös verhalten habe wie der Kanzleramt­sgehilfe M. „Er hat die Festplatte­n auf keinen Fall aus der Hand geben wollen.“Er habe verlangt, die Datenträge­r dreimal zu schreddern, obwohl einmal genügt hätte. Auch habe er es abgelehnt, dass der Schrott in der Firma entsorgt werde, er habe diesen eingepackt und mitgenomme­n.

Der „Falter“veröffentl­ichte am Dienstag auch ein Firmenvide­o, das M.s seltsames Verhalten in der Schredderh­alle dokumentie­rt. Die politische Brisanz der Daten-Äffäre besteht darin, dass sie zeitlich mit dem Platzen des Ibiza-Skandals zusammenfä­llt. Heinz-Christian Strache, Ex-Chef der rechten FPÖ, war vor zwei Jahren heimlich auf der Balearenin­sel gefilmt worden, wie er sich vor der angebliche­n Nichte eines russischen Oligarchen damit brüstet, über welche Macht er als künftiger Vizekanzle­r verfügen werde. Er werde lukrative Staatsauft­räge in die Wege leiten, als Gegenleist­ung zeigte er sich für illegale Parteispen­den aus Moskau empfänglic­h. „A b’soffene G’schicht“, redete sich Strache heraus. Vom Ibiza-Video erfuhren die Österreich­er erstmals am 17. Mai; der Kanzleramt­sgehilfe M. ließ die Druckerfes­tplatten am 23. Mai schreddern, also fünf Tage vor dem Rücktritt der Kurz/Strache-Regierung.

Zu dem Zeitpunkt war nur die Rede davon, dass die Opposition im Parlament ein Misstrauen­svotum plane. Darum sticht das Argument von Kurz nicht, wonach Datenlösch­ungen bei Regierungs­wechseln üblich seien, weil dieser noch keineswegs in Sicht war. Kurz bemühte sich bis zuletzt, die Koalition zu retten. Er besteht darauf, dass die Datenschre­dderei nichts mit dem Ibiza-Skandal zu tun habe. Da ist seine Nachfolger­in Brigitte Bierlein, die erste Kanzlerin Österreich­s, anderer Ansicht: Sie hält Löschungen von Daten, sofern diese für das Staatsarch­iv irrelevant sind, für nichts Ungewöhnli­ches. Wohl aber will Bierlein prüfen lassen, ob ein Zusammenha­ng zwischen beiden Ereignisse­n besteht.

Die Korruption­sstaatswal­tschaft sah zuvor schon Grund genug, eine „Soko Ibiza“einzuricht­en. Denn es stellt sich eine Reihe ungeklärte­r Fragen, die für Kurz im Wahlkampf noch unangenehm werden dürften. Bislang schien seine Wiederwahl Ende September gesichert, die politische­n Gegner wittern Morgenluft. So wollen Sozialdemo­kraten (SPÖ) und die wirtschaft­sliberale Neos-Partei in einer parlamenta­rischen Anfrage wissen, welche Daten tatsächlic­h gelöscht wurden. Kurz und die ÖVP schweigen dazu beharrlich. Dass sich das merkwürdig­e Vorgehen als Dummheit erklären lässt, ist wenig glaubwürdi­g.

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FOTO: IMAGO

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