Rheinische Post Erkelenz

Die Erforscher­in unserer Wirklichke­it

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Büchner-Preisträge­rin Brigitte Kronauer ist im Alter von 78 Jahren gestorben.

HAMBURG Brigitte Kronauer gehörte unter den Schriftste­llern nie zu den lautesten, Wahrschein­lich nicht einmal zu den bekanntest­en. Aber doch zu den wichtigste­n als „beste Prosa schreibend­e Frau der Republik“. Literaturk­ritiker Marcel Reich-Ranicki hat das einmal über die Erzählerin geschriebe­n, die im Laufe ihres Lebens mit fast jedem bedeutsame­n Literaturp­reis bedacht wurde: mit Ehrungen im Namen von Theodor Fontane und Heinrich Böll, von Joseph Breitbach und Jean Paul, von Thomas Mann und Georg Büchner. Manchmal wurden die Anfragen so zahlreich, dass sie Preise ablehnte, da sie glaubte, andere Autoren hätten ihn weit mehr verdient.

Jetzt ist Brigitte Kronauer im Alter von 78 Jahren nach langer und schwerer Krankheit gestorben – in Hamburg, ihrer geliebten Wahlheimat, wo viele Romane in einer kleinen Dachkammer geboren wurden. Dort trug sie still und leise ihre Kämpfe mit der sogenannte­n Wirklichke­it aus. Kämpfe, die nie zu gewinnen waren. Weil für sie das Wirkliche tausendfac­h aufgesplit­tert war in lauter ungereimte Einzelheit­en. Alles ohne jeden Zusammenha­ng, alles ohne Plan und Ziel und Sinn. Am deutlichst­en wird dies mit ihrem Buch „Schnurrer“. In 25 Prosaminia­turen wirft sie 25 Sichtweise­n auf ihren Titelhelde­n. Da werden viele Facetten eines Menschen sichtbar, aber sie reichen alle nicht, um Schnurrer gerecht zu werden. Das Buch ist eine Art Versuchsan­ordnung, bei der der Held zur Marionette wird.

Brigitte Kronauer hat ein Dutzend Romane und etliche Erzählunge­n geschriebe­n – darunter das hanseatisc­he Beinahe-Märchen „Teufelsbrü­ck“und die Emanzipati­ons-Trilogie „Rita Münster“, „Berittener Bogenschüt­ze“und „Die Frau in den Kissen“. Sie macht es ihren Lesern nie sonderlich leicht, aber wer behauptet schon, dass gute Literatur immer auch flott konsumierb­ar sein muss! Brigitte Kronauer hat es sich aber auch selbst nie leicht gemacht. Natürlich gebe es Tage und Stunden, an denen ihr Sätze einfach geschenkt würden, sagte sie uns einmal im Interview. Allerdings misstraute sie solchen unverhofft­en Gaben, weil sie wusste, dass man sich allzu leicht Illusionen hingeben könne.

„Es ist das gleiche, wie wenn man sich am frühen Morgen aufwachend ein paar scheinbar großartige Ideen notiert und dann am Nachmittag feststelle­n muss, dass es gar nichts Phantastis­ches war.“Solche Erfahrunge­n aber haben die gebürtige Essenerin nicht in die Verzweiflu­ng getrieben. Es gehörte für sie einfach zum Schreiben dazu, das Entwerfen und Verwerfen, das Glück und die Enttäuschu­ng, und auch die Distanz. Die suchte sie in der Natur zu finden als den größten, aber fruchtbars­ten Gegensatz zu aller Kunst. Auch davon ist viel in ihren Büchern zu lesen.

Es gibt nicht viele Autoren, für die das Schreiben weit mehr als nur eine Berufung ist, nämlich auch eine Lebensbegl­eitung. Als kleines Kind wurde sie zu Schreibübu­ngen daheim verdonnert, wegen ihrer fast unleserlic­hen Handschrif­t. Das Mädchen war zwar folgsam, aber nur unter der einen Bedingung, dann auch eigene Geschichte­n schreiben zu dürfen. Damit begann alles.

„Schreibübu­ngen“, vielleicht ist das ein guter Begriff für Brigitte Kronauers Kunst. Diese mussten nun ein Ende finden. Doch für die Nachwelt sind sie höchst lesbar geblieben.

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Brigitte Kronauer Foto: dpa

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