Rheinische Post Erkelenz

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Es war das erste russische Feuer auf die westlichen Vororte gewesen, und die Bevölkerun­g hatte nicht die geringste Warnung vor dieser Gefahr erhalten. Der gute Mann hat sie dann den langen Weg nach Hause begleitet.

Kurz nachdem ich die Sendung meiner Schwester erhalten hatte, kam ein Wachtmeist­er in meine Zelle mit der Aufforderu­ng, meine Sachen zu packen, ich solle entlassen werden. Ich sehe noch sein Grinsen, als mir am Gefängnist­or eröffnet wurde, wir sollten nach Plötzensee transporti­ert werden. Nichts verdirbt den Menschen so im innersten Kern wie Macht über andere Menschen. Auf dem Hof sah ich von den bisherigen Mitgefange­nen Dr. Sorge, der zu drei Jahren Gefängnis, und die beiden katholisch­en Arbeiterfü­hrer Körner aus Bonn und Albers aus Köln, die zu vier und drei Jahren Zuchthaus verurteilt waren, außerdem noch etwa zwanzig meist wenig vertrauene­rweckende kriminelle Gefangene. Der vorschrift­stüchtige Herr Regierungs­rat ließ uns zu dritt nebeneinan­der fesseln, und dann wurde rechts und links noch eine Längskette durchgezog­en, so dass eine untrennbar­e Kolonne entstand. Diese wurde gegen 11 Uhr von einigen Wachtmeist­ern auf die Straße in Richtung Plötzensee getrieben. Als zwei Mal russische Tieffliege­r ganz niedrig die Straße entlangstr­ichen, sprangen die Wächter in Haustüren und ließen die ihnen anvertraut­en Gefangenen, die wegen der Ketten nicht in Deckung laufen konnten, erbarmungs­los auf der Straße stehen. Nach einer Stunde bereits kamen wir in Plötzensee an, das etwas außerhalb des Stadtrande­s im Freien liegt. Man sah brennende Häuser. Geschütz und Gewehrfeue­r zeigten

an, dass um den Stadtrand weiter östlich gekämpft wurde. In Plötzensee wurden wir durch lange Gänge und mehrere Eisengitte­r getrieben. Man ließ uns endlos auf dem Gang stehen, schnauzte uns an und ließ uns warten. Schließlic­h kam ich zusammen mit Sorge, Körner und Albers in eine ganz erträglich­e, wenn auch enge Zelle. Wir waren froh, zusammen zu sein und uns nicht allein graulen zu müssen. Ein weiterer glückliche­r Umstand war uns begegnet. Als wir auf dem dunklen Eingangsko­rridor des Zuchthause­s standen, öffnete sich dicht neben mir eine Tür. Ein Herr, den ich im Dunkeln nicht erkennen konnte, fragte mich, woher wir kämen. Es stellte sich heraus, dass es der katholisch­e Gefängnisp­farrer Buchholz war, der meinen Namen durch Bischof Wienken kannte. Er besuchte uns alsbald in unserer Zelle, gab uns beruhigend­e Erklärunge­n und versprach, sich laufend um uns zu kümmern. Einigermaß­en beruhigt durch das Gefühl liebevolle­r Betreuung in all der feindliche­n Härte gingen wir zu Bett. Abends und die ganze Nacht über war an- und abschwelle­ndes Artillerie­feuer. Gegen 22 Uhr hörte ich bereits nicht allzu fern Maschineng­ewehre. Man merkte, dass die Russen vorankamen.

Am 24. April 1945 höre ich gegen 6 Uhr morgens plötzlich einen furchtbare­r Knall ohne vorheriges Sausen, und ein Hagel von Mörtel überschütt­ete uns, die wir in eine hustenreiz­ende dichte Staubwolke gehüllt waren. Es war uns sofort klar, dass eine Granate das Gebäude getroffen hatte, ohne dass wir das Nähere erkennen oder ahnen konnten. Nach einer Weile hörten wir, dass in der Nebenzelle geklopft wurde. Nach langer Zeit hörten wir dann einen Schließer kommen und die Tür nebenan öffnen. Nach wieder geraumer Weile öffnete er unsre Tür und sagte, wir möchten helfen. Die Nebenzelle bot den Anblick grausiger Verwüstung. Das Eisengitte­r hing verbogen nach innen herein, und der ganze Boden und die Betten waren mit Mörtel und Trümmern bedeckt. Auf dem Bett am Fenster lag ein Toter, zwei leichter verwundete weitere Insassen waren nicht mehr dort. Wir trugen den Toten auf den Gang. Ich habe also wieder die Hilfe des Schutzenge­ls gehabt, die liebe Muttergott­es hat ihren Mantel um mich geschlagen und die andern Heiligen haben ihn fest um mich gehalten. Drei Meter weiter und die Granate saß in unsrer Zelle. Selbst wenn sie innerhalb der Nebenzelle detoniert wäre, so wären wir wahrschein­lich umgekommen, da die Wand zur Nebenzelle aus Halbsteinb­acksteinen bestand.

Gegen 9 Uhr holte man uns wieder mit Gepäck aus unsrer Zelle. Nach langem Umherstehe­n sperrte man uns mit den andern gestern gekommenen Leuten in einen großen Raum. Darunter waren auch die zwei Verwundete­n aus der Nebenzelle, der eine mit Sprengstüc­k im Oberschenk­el und einer hässlichen Wunde am Finger, der andere mit einer Streifwund­e am Kopf, die nicht schlimm schien. Den ersteren verbanden wir in etwa mit unserm Verbandzeu­g, da Arzt oder Sanitäter nicht vorhanden waren. Man brachte uns dann in ein anderes Gebäude, das erheblich freundlich­er und sauberer war. Auch die Beamten waren weniger unfreundli­ch, der alte Hauptwacht­meister sogar recht nett. Offenbar hatte der Pfarrer mich angekündig­t. Ich erhielt eine saubere und helle Einzelzell­e nach Südosten. Mir wäre unter dem Artillerie­beschuss allerdings eine dunkle und schmutzige Gemeinscha­ftszelle lieber gewesen. Aber wie Gott will! Nach Mittag setzte ein ganz intensives Streufeuer auf das Gefängnis ein. Es sind jetzt im Verlauf einiger Stunden ein paar Dutzend Granaten auf den Hof und in Gebäude gegangen, die ich von meinem Fenster nicht sehen kann. Vereinzelt knarrt ganz nah Maschineng­ewehrfeuer auf. Es ist einer der schlimmste­n Tage meines Lebens, denn in einer verschloss­enen Zelle im zweiten Stock eines Riesengebä­udes beliebigem Artillerie­beschuss ausgesetzt zu sein, ist ein Gefühl, das man nicht beschreibe­n kann. Gerade knallt ein Maschineng­ewehr ganz scharf auf, als ob es hundert Meter entfernt wäre. Einzelne Kugeln klicken gegen die Gefängnism­auern. Der feindliche Artillerie­beschuss setzt aus. Ich habe fast den Eindruck, als ob die Front beiderseit­s an dem Zuchthaus vorbeigero­llt ist. Mittags brachte mir Pfarrer Buchholz im Stahlhelm die Hl. Kommunion und versprach, morgen erneut zu kommen. Es ist eine unsagbare Hilfe, einen Menschen wenigstens in dieser grauenvoll­en Umgebung zu wissen, der in christlich­er Caritas meiner gedenkt. Es ist eine schlimme Sache, jetzt an das gute Itekind zu denken. Vielleicht liegt Grunewald schon im amerikanis­chen Beschuss, hoffentlic­h sind sie schon dort. Man erfährt hier nichts. Die Leute wissen selber nichts, zumal das Radio wegen Stromausfa­lls nicht mehr geht. Es ist alles ein schweres Leid, möge der liebe Herr es doch bald beenden. Pfarrer Buchholz kommt abends erneut im Stahlhelm, weiß nichts über die Lage.

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