Als der Wagen nicht kam
Es war das erste russische Feuer auf die westlichen Vororte gewesen, und die Bevölkerung hatte nicht die geringste Warnung vor dieser Gefahr erhalten. Der gute Mann hat sie dann den langen Weg nach Hause begleitet.
Kurz nachdem ich die Sendung meiner Schwester erhalten hatte, kam ein Wachtmeister in meine Zelle mit der Aufforderung, meine Sachen zu packen, ich solle entlassen werden. Ich sehe noch sein Grinsen, als mir am Gefängnistor eröffnet wurde, wir sollten nach Plötzensee transportiert werden. Nichts verdirbt den Menschen so im innersten Kern wie Macht über andere Menschen. Auf dem Hof sah ich von den bisherigen Mitgefangenen Dr. Sorge, der zu drei Jahren Gefängnis, und die beiden katholischen Arbeiterführer Körner aus Bonn und Albers aus Köln, die zu vier und drei Jahren Zuchthaus verurteilt waren, außerdem noch etwa zwanzig meist wenig vertrauenerweckende kriminelle Gefangene. Der vorschriftstüchtige Herr Regierungsrat ließ uns zu dritt nebeneinander fesseln, und dann wurde rechts und links noch eine Längskette durchgezogen, so dass eine untrennbare Kolonne entstand. Diese wurde gegen 11 Uhr von einigen Wachtmeistern auf die Straße in Richtung Plötzensee getrieben. Als zwei Mal russische Tiefflieger ganz niedrig die Straße entlangstrichen, sprangen die Wächter in Haustüren und ließen die ihnen anvertrauten Gefangenen, die wegen der Ketten nicht in Deckung laufen konnten, erbarmungslos auf der Straße stehen. Nach einer Stunde bereits kamen wir in Plötzensee an, das etwas außerhalb des Stadtrandes im Freien liegt. Man sah brennende Häuser. Geschütz und Gewehrfeuer zeigten
an, dass um den Stadtrand weiter östlich gekämpft wurde. In Plötzensee wurden wir durch lange Gänge und mehrere Eisengitter getrieben. Man ließ uns endlos auf dem Gang stehen, schnauzte uns an und ließ uns warten. Schließlich kam ich zusammen mit Sorge, Körner und Albers in eine ganz erträgliche, wenn auch enge Zelle. Wir waren froh, zusammen zu sein und uns nicht allein graulen zu müssen. Ein weiterer glücklicher Umstand war uns begegnet. Als wir auf dem dunklen Eingangskorridor des Zuchthauses standen, öffnete sich dicht neben mir eine Tür. Ein Herr, den ich im Dunkeln nicht erkennen konnte, fragte mich, woher wir kämen. Es stellte sich heraus, dass es der katholische Gefängnispfarrer Buchholz war, der meinen Namen durch Bischof Wienken kannte. Er besuchte uns alsbald in unserer Zelle, gab uns beruhigende Erklärungen und versprach, sich laufend um uns zu kümmern. Einigermaßen beruhigt durch das Gefühl liebevoller Betreuung in all der feindlichen Härte gingen wir zu Bett. Abends und die ganze Nacht über war an- und abschwellendes Artilleriefeuer. Gegen 22 Uhr hörte ich bereits nicht allzu fern Maschinengewehre. Man merkte, dass die Russen vorankamen.
Am 24. April 1945 höre ich gegen 6 Uhr morgens plötzlich einen furchtbarer Knall ohne vorheriges Sausen, und ein Hagel von Mörtel überschüttete uns, die wir in eine hustenreizende dichte Staubwolke gehüllt waren. Es war uns sofort klar, dass eine Granate das Gebäude getroffen hatte, ohne dass wir das Nähere erkennen oder ahnen konnten. Nach einer Weile hörten wir, dass in der Nebenzelle geklopft wurde. Nach langer Zeit hörten wir dann einen Schließer kommen und die Tür nebenan öffnen. Nach wieder geraumer Weile öffnete er unsre Tür und sagte, wir möchten helfen. Die Nebenzelle bot den Anblick grausiger Verwüstung. Das Eisengitter hing verbogen nach innen herein, und der ganze Boden und die Betten waren mit Mörtel und Trümmern bedeckt. Auf dem Bett am Fenster lag ein Toter, zwei leichter verwundete weitere Insassen waren nicht mehr dort. Wir trugen den Toten auf den Gang. Ich habe also wieder die Hilfe des Schutzengels gehabt, die liebe Muttergottes hat ihren Mantel um mich geschlagen und die andern Heiligen haben ihn fest um mich gehalten. Drei Meter weiter und die Granate saß in unsrer Zelle. Selbst wenn sie innerhalb der Nebenzelle detoniert wäre, so wären wir wahrscheinlich umgekommen, da die Wand zur Nebenzelle aus Halbsteinbacksteinen bestand.
Gegen 9 Uhr holte man uns wieder mit Gepäck aus unsrer Zelle. Nach langem Umherstehen sperrte man uns mit den andern gestern gekommenen Leuten in einen großen Raum. Darunter waren auch die zwei Verwundeten aus der Nebenzelle, der eine mit Sprengstück im Oberschenkel und einer hässlichen Wunde am Finger, der andere mit einer Streifwunde am Kopf, die nicht schlimm schien. Den ersteren verbanden wir in etwa mit unserm Verbandzeug, da Arzt oder Sanitäter nicht vorhanden waren. Man brachte uns dann in ein anderes Gebäude, das erheblich freundlicher und sauberer war. Auch die Beamten waren weniger unfreundlich, der alte Hauptwachtmeister sogar recht nett. Offenbar hatte der Pfarrer mich angekündigt. Ich erhielt eine saubere und helle Einzelzelle nach Südosten. Mir wäre unter dem Artilleriebeschuss allerdings eine dunkle und schmutzige Gemeinschaftszelle lieber gewesen. Aber wie Gott will! Nach Mittag setzte ein ganz intensives Streufeuer auf das Gefängnis ein. Es sind jetzt im Verlauf einiger Stunden ein paar Dutzend Granaten auf den Hof und in Gebäude gegangen, die ich von meinem Fenster nicht sehen kann. Vereinzelt knarrt ganz nah Maschinengewehrfeuer auf. Es ist einer der schlimmsten Tage meines Lebens, denn in einer verschlossenen Zelle im zweiten Stock eines Riesengebäudes beliebigem Artilleriebeschuss ausgesetzt zu sein, ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann. Gerade knallt ein Maschinengewehr ganz scharf auf, als ob es hundert Meter entfernt wäre. Einzelne Kugeln klicken gegen die Gefängnismauern. Der feindliche Artilleriebeschuss setzt aus. Ich habe fast den Eindruck, als ob die Front beiderseits an dem Zuchthaus vorbeigerollt ist. Mittags brachte mir Pfarrer Buchholz im Stahlhelm die Hl. Kommunion und versprach, morgen erneut zu kommen. Es ist eine unsagbare Hilfe, einen Menschen wenigstens in dieser grauenvollen Umgebung zu wissen, der in christlicher Caritas meiner gedenkt. Es ist eine schlimme Sache, jetzt an das gute Itekind zu denken. Vielleicht liegt Grunewald schon im amerikanischen Beschuss, hoffentlich sind sie schon dort. Man erfährt hier nichts. Die Leute wissen selber nichts, zumal das Radio wegen Stromausfalls nicht mehr geht. Es ist alles ein schweres Leid, möge der liebe Herr es doch bald beenden. Pfarrer Buchholz kommt abends erneut im Stahlhelm, weiß nichts über die Lage.