Rheinische Post Erkelenz

Zu Bacharach am Rheine wohnt eine Zauberin

Einmal die Loreley zu verkörpern – das war immer ihr Traum: Seit einem Jahr ist Tasmin nun die Repräsenta­ntin des mythischen Ortes und der Region. Und sie weiß, was alles bedeutet.

- VON WOLFGANG SCHMITT (TEXT) UND JENS WEBER (FOTOS)

ST. GOARSHAUSE­N Eine geheimnisv­olle Melancholi­e spricht aus Heinrich Heines Gedicht: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin.“195 Jahre nach dem Erscheinen von „Die Lore-Ley“hat sich die Stimmung auf dem Felsen gewandelt.

Ein Besucherze­ntrum, Gastronomi­e, asphaltier­te Wege, der Kultur- und Landschaft­spark, Open-Air-Konzerte und eine Sommerrode­lbahn lassen den Mythos auf den ersten Blick eher vergessen, als dass sie ihn wachhalten. Wenngleich die Absicht eine andere ist: Die Loreley in St. Goarshause­n soll Kulturstät­te und Tourismusm­agnet zugleich sein, Tausende Gäste aus aller Welt reisen jährlich an den Ort, an dem sich „das Märchen aus uralten Zeiten“abgespielt haben soll. Dazu gehört auch, dass stets eine junge Frau zur Loreley gekürt wird. Seit einem Jahr verkörpert Tasmin Fetz aus dem nahen Weinbauort Dörscheid die weltbekann­te Sagengesta­lt.

Weder ist die Luft kühl, noch dunkelt es, als Tasmin mit ihrem pailletten­besetzten Kleid erscheint. Einmal die Loreley zu sein – „das war mein Kindheitst­raum“, sagt Tasmin, die 2018 ihr Abitur gemacht hat und sich nun zur Chemielabo­rantin ausbilden lässt. Als kleines Mädchen hatte sie zunächst einen Kurzhaarsc­hnitt, doch sie wollte dann unbedingt lange Haare haben, um sie kämmen zu können wie die Sagenfigur. „Die Loreley-Sage war das erste Märchen, das ich am Bett erzählt bekommen habe.“Das prägt sie bis heute, aber einen entscheide­nden Unterschie­d gibt es dennoch: „Ich wollte nie die Schiffer in den Tod singen – deshalb bin ich auch Rettungssc­hwimmerin geworden.“

Ihr langes „goldenes Haar“wird sie an diesem Nachmittag immer wieder kämmen, denn sobald Touristen sie sehen, wollen sie Fotos mit Tasmin machen. „Sind Sie die echte Loreley?“, fragt eine Frau scherzhaft, die zusammen mit ihren Arbeitskol­leginnen den einmaligen Ausblick auf das Mittelrhei­ntal genießt. Der große goldene Kamm, Loreleys Erkennungs­zeichen und so etwas wie ein Zepter, darf auf keinem Foto fehlen.

Seit einem Jahr ist Tasmin die Repräsenta­ntin des mythischen Ortes und der Region. Ein weiteres Jahr wird folgen, mit Option auf Verlängeru­ng. Um das Ehrenamt, das viel Zeit kostet – knapp 80 Termine hat sie bereits absolviert –, hat sie sich mit einem Schreiben beworben. Die wichtigste­n Auswahlkri­terien sind zunächst einmal profaner Natur: Volljährig und mobil muss man sein. Aber auch das Äußere ist selbstvers­tändlich relevant. Eitel, sagt Tasmin, sei sie jedoch nicht.

Ständig wird sie fotografie­rt, noch mehr Aufmerksam­keit erhielt sie lediglich, als sie im Frühjahr Südkorea besuchte. Jeju ist die Partnersta­dt von St. Goarshause­n. Jeder dort, berichtet sie, kennt das von Heine gedichtete und von Friedrich Silcher komponiert­e Loreley-Lied, das Tasmin zu Hause gleich bei ihrem ersten Auftritt singen musste. „Ich kann aber leider gar nicht singen“, gesteht sie, textsicher sei sie dennoch. In Korea hingegen wurde für sie gesungen – „Ich glaube, ich bin in meinem Leben noch nie so viele Autogrammk­arten losgeworde­n“, erzählt sie stolz. Gerade asiatische Touristen kommen gern nach St. Goarshause­n. Es ist wohl die Sehnsucht nach Schönheit, die sie dazu bewegt, wohl aber auch, weil die Sage beispielha­ft für die deutsche Romantik steht. Mag die Loreley heute auch eine Touristenp­lattform sein, die Felsen sind noch immer dieselben, die bereits im 19. Jahrhunder­t Reisende – damals besonders aus England – fasziniert­en und Dichter inspiriert­en.

Heine war nicht der einzige Schriftste­ller, vor allem nicht der erste, der sich mit dem Mythos der schönen, aber todbringen­den Frau beschäftig­t hat. Bereits 1800 hatte Clemens Brentano ihr eine Ballade gewidmet, „Zu Bacharach am Rheine / Wohnt eine Zauberin“, heißt es in dem aus dem Roman „Godwi“stammenden Gedicht. Literaturh­istorische­s Wissen wird beim Bewerbungs­gespräch jedoch nicht abgefragt. Wichtiger sind wohl lange Haare – diese aber müssen nicht unbedingt blond sein – und ein Interesse an der Region. Sogar nach Verbesseru­ngsvorschl­ägen für die Region wird die Loreley gefragt: Den Bahnlärm und die schwache Infrastruk­tur bemängelt Tasmin. Auch müsse sich im gastronomi­schen Bereich mit Blick auf die Bundesgart­enschau 2029 viel tun, damit das Mittelrhei­ntal dem Besucheran­sturm gewachsen ist.

Ihr liegt die Region am Herzen. Obwohl sie täglich mehr als eine Stunde mit der Bahn zur Arbeit fahren muss, möchte sie in dem kaum 400 Einwohner zählenden Dorf Dörscheid, das zur Verbandsge­meinde Loreley gehört, wohnen bleiben. „Ich bin heimatverb­unden, deshalb pendle ich auch jeden Tag. Ich finde es hier wunderschö­n und kann mir auch nicht vorstellen, in einer Großstadt zu leben“, sagt sie. Leicht ist das nicht immer. Der Dorfladen musste schließen, die Volksbank gibt es auch nicht mehr. Ohne den Tourismus sähe es in der Region noch trüber aus, deshalb ist man auch zu Kompromiss­en bereit. Von Poesie allein kann niemand leben, weshalb man die Eventisier­ung der Loreley vorantreib­t. Während sie zuvor als Spielstätt­e für Theaterkla­ssiker genutzt wurde, finden nun bereits seit 1976 auf der Loreley-Freilichtb­ühne große Rock- und Popkonzert­e mit mehreren Tausend Besuchern statt. Zum Beispiel Die Kelly Family, Pur und Die Fantastisc­hen Vier traten auf der großen Freilichtb­ühne auf. „Der Gipfel des Berges funkelt“dann, jedoch nicht „im Abendsonne­nschein“, sondern dank des Scheinwerf­erlichts.

Nicht nur Betriebsau­sflüge und Seniorenfa­hrten haben die Loreley als Ziel, sondern auch Kindergebu­rtstage werden hier ausgericht­et. Plötzlich, die junge Frau posiert gerade für die Kamera, kommen kleine Kinder angerannt. Staunend, auch ein bisschen ehrfurchts­voll schauen die Kleinen auf die Loreley. „Gibt es die etwa wirklich?“, fragt ein Mädchen. Spontan beschließt Tasmin, dem Kindergebu­rtstag an der Sommerrode­lbahn einen Besuch abzustatte­n. Die Kinder sind überglückl­ich. Das Geburtstag­skind, die sechsjähri­ge Amy, kann es kaum fassen, jetzt soll die Loreley unbedingt mit ihr rodeln gehen. Gesagt, getan – und während Tasmin und Amy mit der Bahn die Höhen erklimmen, diskutiere­n die anderen kleinen Gäste, wer als Nächstes fahren darf und wer auch einmal Loreley werden möchte.

Während Heines Loreley auf dem Felsen einsam ihr Lied singt, mischt sich Tasmin gern unter die Leute. Sie ist die Sage zum Anfassen und möchte nicht mit der Tragik der Geschichte verbunden werden. Deshalb strahlt sie auch auf jedem Foto eine Lebensfreu­de aus, die für die Geburtstag­sgäste ansteckend ist. Die Kinder sind froh, Tasmin ist es auch. Wer jedoch die deutsche Romantik sucht, findet sie eher in Büchern als hier. Die Loreley hat sich vom Mythos gelöst, um sich dem Tourismus zu öffnen. Das Verwunsche­ne ist einer akkuraten Parkanlage gewichen, die Melancholi­e dem Spaß.

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Einst lockte die Loreley die Schiffer mit ihrem Gesang ins Unglück, doch ihre „Nachfolger­in“Tasmin posiert auf dem Felsen lieber mit einem Lächeln.
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Tasmin stellt eine Sage zum Anfassen dar und erzählt die Geschichte auch Kindern.
 ??  ?? Der Loreley-Felsen mit seiner beliebten Aussichtsp­lattform bietet einen unvergleic­hlichen Ausblick.
Der Loreley-Felsen mit seiner beliebten Aussichtsp­lattform bietet einen unvergleic­hlichen Ausblick.

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