Zu Bacharach am Rheine wohnt eine Zauberin
Einmal die Loreley zu verkörpern – das war immer ihr Traum: Seit einem Jahr ist Tasmin nun die Repräsentantin des mythischen Ortes und der Region. Und sie weiß, was alles bedeutet.
ST. GOARSHAUSEN Eine geheimnisvolle Melancholie spricht aus Heinrich Heines Gedicht: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin.“195 Jahre nach dem Erscheinen von „Die Lore-Ley“hat sich die Stimmung auf dem Felsen gewandelt.
Ein Besucherzentrum, Gastronomie, asphaltierte Wege, der Kultur- und Landschaftspark, Open-Air-Konzerte und eine Sommerrodelbahn lassen den Mythos auf den ersten Blick eher vergessen, als dass sie ihn wachhalten. Wenngleich die Absicht eine andere ist: Die Loreley in St. Goarshausen soll Kulturstätte und Tourismusmagnet zugleich sein, Tausende Gäste aus aller Welt reisen jährlich an den Ort, an dem sich „das Märchen aus uralten Zeiten“abgespielt haben soll. Dazu gehört auch, dass stets eine junge Frau zur Loreley gekürt wird. Seit einem Jahr verkörpert Tasmin Fetz aus dem nahen Weinbauort Dörscheid die weltbekannte Sagengestalt.
Weder ist die Luft kühl, noch dunkelt es, als Tasmin mit ihrem paillettenbesetzten Kleid erscheint. Einmal die Loreley zu sein – „das war mein Kindheitstraum“, sagt Tasmin, die 2018 ihr Abitur gemacht hat und sich nun zur Chemielaborantin ausbilden lässt. Als kleines Mädchen hatte sie zunächst einen Kurzhaarschnitt, doch sie wollte dann unbedingt lange Haare haben, um sie kämmen zu können wie die Sagenfigur. „Die Loreley-Sage war das erste Märchen, das ich am Bett erzählt bekommen habe.“Das prägt sie bis heute, aber einen entscheidenden Unterschied gibt es dennoch: „Ich wollte nie die Schiffer in den Tod singen – deshalb bin ich auch Rettungsschwimmerin geworden.“
Ihr langes „goldenes Haar“wird sie an diesem Nachmittag immer wieder kämmen, denn sobald Touristen sie sehen, wollen sie Fotos mit Tasmin machen. „Sind Sie die echte Loreley?“, fragt eine Frau scherzhaft, die zusammen mit ihren Arbeitskolleginnen den einmaligen Ausblick auf das Mittelrheintal genießt. Der große goldene Kamm, Loreleys Erkennungszeichen und so etwas wie ein Zepter, darf auf keinem Foto fehlen.
Seit einem Jahr ist Tasmin die Repräsentantin des mythischen Ortes und der Region. Ein weiteres Jahr wird folgen, mit Option auf Verlängerung. Um das Ehrenamt, das viel Zeit kostet – knapp 80 Termine hat sie bereits absolviert –, hat sie sich mit einem Schreiben beworben. Die wichtigsten Auswahlkriterien sind zunächst einmal profaner Natur: Volljährig und mobil muss man sein. Aber auch das Äußere ist selbstverständlich relevant. Eitel, sagt Tasmin, sei sie jedoch nicht.
Ständig wird sie fotografiert, noch mehr Aufmerksamkeit erhielt sie lediglich, als sie im Frühjahr Südkorea besuchte. Jeju ist die Partnerstadt von St. Goarshausen. Jeder dort, berichtet sie, kennt das von Heine gedichtete und von Friedrich Silcher komponierte Loreley-Lied, das Tasmin zu Hause gleich bei ihrem ersten Auftritt singen musste. „Ich kann aber leider gar nicht singen“, gesteht sie, textsicher sei sie dennoch. In Korea hingegen wurde für sie gesungen – „Ich glaube, ich bin in meinem Leben noch nie so viele Autogrammkarten losgeworden“, erzählt sie stolz. Gerade asiatische Touristen kommen gern nach St. Goarshausen. Es ist wohl die Sehnsucht nach Schönheit, die sie dazu bewegt, wohl aber auch, weil die Sage beispielhaft für die deutsche Romantik steht. Mag die Loreley heute auch eine Touristenplattform sein, die Felsen sind noch immer dieselben, die bereits im 19. Jahrhundert Reisende – damals besonders aus England – faszinierten und Dichter inspirierten.
Heine war nicht der einzige Schriftsteller, vor allem nicht der erste, der sich mit dem Mythos der schönen, aber todbringenden Frau beschäftigt hat. Bereits 1800 hatte Clemens Brentano ihr eine Ballade gewidmet, „Zu Bacharach am Rheine / Wohnt eine Zauberin“, heißt es in dem aus dem Roman „Godwi“stammenden Gedicht. Literaturhistorisches Wissen wird beim Bewerbungsgespräch jedoch nicht abgefragt. Wichtiger sind wohl lange Haare – diese aber müssen nicht unbedingt blond sein – und ein Interesse an der Region. Sogar nach Verbesserungsvorschlägen für die Region wird die Loreley gefragt: Den Bahnlärm und die schwache Infrastruktur bemängelt Tasmin. Auch müsse sich im gastronomischen Bereich mit Blick auf die Bundesgartenschau 2029 viel tun, damit das Mittelrheintal dem Besucheransturm gewachsen ist.
Ihr liegt die Region am Herzen. Obwohl sie täglich mehr als eine Stunde mit der Bahn zur Arbeit fahren muss, möchte sie in dem kaum 400 Einwohner zählenden Dorf Dörscheid, das zur Verbandsgemeinde Loreley gehört, wohnen bleiben. „Ich bin heimatverbunden, deshalb pendle ich auch jeden Tag. Ich finde es hier wunderschön und kann mir auch nicht vorstellen, in einer Großstadt zu leben“, sagt sie. Leicht ist das nicht immer. Der Dorfladen musste schließen, die Volksbank gibt es auch nicht mehr. Ohne den Tourismus sähe es in der Region noch trüber aus, deshalb ist man auch zu Kompromissen bereit. Von Poesie allein kann niemand leben, weshalb man die Eventisierung der Loreley vorantreibt. Während sie zuvor als Spielstätte für Theaterklassiker genutzt wurde, finden nun bereits seit 1976 auf der Loreley-Freilichtbühne große Rock- und Popkonzerte mit mehreren Tausend Besuchern statt. Zum Beispiel Die Kelly Family, Pur und Die Fantastischen Vier traten auf der großen Freilichtbühne auf. „Der Gipfel des Berges funkelt“dann, jedoch nicht „im Abendsonnenschein“, sondern dank des Scheinwerferlichts.
Nicht nur Betriebsausflüge und Seniorenfahrten haben die Loreley als Ziel, sondern auch Kindergeburtstage werden hier ausgerichtet. Plötzlich, die junge Frau posiert gerade für die Kamera, kommen kleine Kinder angerannt. Staunend, auch ein bisschen ehrfurchtsvoll schauen die Kleinen auf die Loreley. „Gibt es die etwa wirklich?“, fragt ein Mädchen. Spontan beschließt Tasmin, dem Kindergeburtstag an der Sommerrodelbahn einen Besuch abzustatten. Die Kinder sind überglücklich. Das Geburtstagskind, die sechsjährige Amy, kann es kaum fassen, jetzt soll die Loreley unbedingt mit ihr rodeln gehen. Gesagt, getan – und während Tasmin und Amy mit der Bahn die Höhen erklimmen, diskutieren die anderen kleinen Gäste, wer als Nächstes fahren darf und wer auch einmal Loreley werden möchte.
Während Heines Loreley auf dem Felsen einsam ihr Lied singt, mischt sich Tasmin gern unter die Leute. Sie ist die Sage zum Anfassen und möchte nicht mit der Tragik der Geschichte verbunden werden. Deshalb strahlt sie auch auf jedem Foto eine Lebensfreude aus, die für die Geburtstagsgäste ansteckend ist. Die Kinder sind froh, Tasmin ist es auch. Wer jedoch die deutsche Romantik sucht, findet sie eher in Büchern als hier. Die Loreley hat sich vom Mythos gelöst, um sich dem Tourismus zu öffnen. Das Verwunschene ist einer akkuraten Parkanlage gewichen, die Melancholie dem Spaß.