Rheinische Post Erkelenz

„Die Justiz spielt keine überzeugen­de Rolle“

Der ehemalige Bundestags­präsident hält den Gerichten Untätigkei­t bei Drohungen gegen Politiker vor. Er sieht die Demokratie in Gefahr, weil die Bürger sie inzwischen für selbstvers­tändlich hielten. Norbert Lammert, ein Mann des Wortes

- KRISTINA DUNZ FÜHRTE DAS INTERVIEW.

BERLIN Norbert Lammert kann aus seinem Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zwar nicht auf den Bundestag, aber auf die Berliner Siegessäul­e schauen. Auf das Parlament, dem er 37 Jahre angehörte, hat Lammert ohnehin einen eigenen Blick. Der Wandel der Debattenku­ltur treibt ihn um, die KAS beschäftig­t sich mit dem Thema schwerpunk­tmäßig.

Herr Lammert, warum sind Sie nicht auf Twitter?

LAMMERT Ich habe dieses Instrument zur Kommentier­ung laufender Ereignisse nie gebraucht und wurde dort auch offensicht­lich nicht vermisst. So attraktiv die sogenannte­n sozialen Medien sein mögen: Für mich sind die klassische­n Medien als profession­elle Filter relevanter und geprüfter Informatio­nen unverzicht­bar. Deren Verdrängun­g werden wir mit einem zunehmende­n Verlust des Urteilsver­mögens unserer Gesellscha­ft bezahlen.

Das Land rückt nach rechts, ist unsere Demokratie in Gefahr? LAMMERT Ich hoffe nicht, aber die lange Zeit der großen Koalition hat weder der Vitalität parlamenta­rischer Demokratie noch dem Profil der beiden Volksparte­ien gutgetan. Dabei gab es durchaus Alternativ­en. 2013 hatte der Grünen-Politiker Jürgen Trittin seine Partei daran gehindert, in eine Koalition mit der Union zu gehen, und 2017 hat ein anderer Held eine kleinere Koalition verhindert.

Sie meinen FDP-Chef Lindner. LAMMERT Während der großen Koalition von 2013 bis 2017 haben die sie tragenden Fraktionen bei beiden großen, gesellscha­ftlich umstritten­en Themen – Migration und Flüchtling­e sowie Euro und Griechenla­nd – gemeinsame Positionen vertreten, und die Opposition von Linken und Grünen hat die Politik der Bundesregi­erung entweder unterstütz­t oder noch mehr Hilfen gefordert. Eine beachtlich­e Minderheit der Wähler hat sich mit ihren gegenteili­gen Erwartunge­n im deutschen Parlament dadurch nicht mehr hinreichen­d vertreten gefühlt. Man muss deren Ansicht nicht teilen, aber man muss sie für legitim halten. Und was machen diese Menschen dann? Sie schauen nach einer Alternativ­e. Viele Wähler der AfD verbitten sich zu Recht, in eine rechtsradi­kale Ecke gestellt zu werden.

Aber etliche AfD-Politiker stehen in dieser Ecke.

LAMMERT Ich empfehle, den Einzug der AfD in den Bundestag weder zu banalisier­en noch zu dramatisie­ren. Die Banalisier­ung verbietet sich schon mit Blick auf die deutsche Geschichte. Und die Dramatisie­rung verbietet sich, weil es eine allzu treuherzig­e Wunschvors­tellung ist, dass die Welle des Populismus, die schon seit einigen Jahren über Europa, aber auch weit darüber hinaus schwappt, nur an Deutschlan­d vorbeigeht. In vielen EU-Ländern sind Populisten schon an der Regierung beteiligt. Und auch bei einer der ältesten Demokratie­n, den USA, können wir Entspreche­ndes beobachten.

Aber müsste es nicht gerade Deutschlan­d mit seiner Vergangenh­eit besser machen?

LAMMERT Im genetische­n Code unseres Landes ist die traumatisc­he Erfahrung des Scheiterns einer deutschen Demokratie verankert. Und die ist nicht an der Verfassung gescheiter­t, sondern am Wahlverhal­ten der Menschen, die sich unter dem Druck von Schwierigk­eiten immer mehr zu extremen Gruppierun­gen geflüchtet und von ihnen Lösungen erwartet haben – mit den bekannten Ergebnisse­n, die nicht nur das eigene Land ruiniert haben. Und diese Erinnerung ist der Grund, warum bei uns der Rechtspopu­lismus bislang nicht so stark ist wie in anderen Ländern. Um es klar zu sagen: 85 von 100 Wählern haben nicht AfD gewählt.

Was ist der Grund für so viel Unzufriede­nheit im Land?

LAMMERT Schnelle gleichzeit­ige Veränderun­gen in der Welt sowie in der eigenen Umgebung – vor allem mit Blick auf Globalisie­rung und Digitalisi­erung – werden von manchen als Bedrohung empfunden. Das ist nicht exklusiv deutsch. Aber beispielsw­eise in Ostdeutsch­land ist dieses Gefühl einer fundamenta­len Verunsiche­rung vertrauter Lebensverh­ältnisse besonders groß. Die Menschen hier haben ihre Betriebe und ihre Arbeitsplä­tze schon einmal zusammenbr­echen sehen. Nun sehen sie eine Gefahr für die nach der Wende erarbeitet­e Stabilität und die erhofften Zukunftspe­rspektiven.

Was bedeutet für Sie die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke? LAMMERT Er war nicht das erste Opfer von Rechtsradi­kalen. Aber es war der erste rechtsradi­kal motivierte Mord an einem Politiker. Ich hoffe, dass das nun der späteste denkbare Weckruf ist, dass rhetorisch­e Entgleisun­gen und Unterbietu­ngswettbew­erbe nicht länger zwar bedauernd, aber zu oft gleichgült­ig zur Kenntnis genommen werden. Wir müssen viel konsequent­er den Tendenzen zur sprachlich­en Verrohung entgegentr­eten, insbesonde­re in den sozialen Medien. Für mich spielt auch die deutsche Justiz dabei keine überzeugen­de Rolle. Es gibt nicht nur schlimmste verbale Beleidigun­gen, Verleumdun­gen, sondern auch unmissvers­tändliche Bedrohunge­n von Politikern und Journalist­en, aber Gerichte schlagen Anzeigen fast immer nieder mit der Begründung, es handele sich um eine virtuelle Bedrohung.

Die sagen, ihnen fehlt Personal. LAMMERT Dieses Argument kann wohl kein ernsthafte­r Einwand sein, die deutsche Rechtsordn­ung nicht ernst zu nehmen. Hat das jemals zur Einstellun­g von Verfahren wegen Geschwindi­gkeitsüber­schreitung­en geführt?

Die Wirtschaft­slage ist gut, aber das Parteiensy­stem zersplitte­rt. Was läuft falsch?

LAMMERT Es stimmt: Man muss auf diesem Globus weit laufen, um ein Land von dieser politische­n und wirtschaft­lichen Stabilität zu finden. Genau diese Wahrnehmun­g ist unser größtes Risiko. Denn wir halten diesen Zustand nicht nur für denkmalwür­dig, sondern auch für denkmalges­chützt. Dabei müssten wir Ämter 1975 wurde er in den Bochumer Stadtrat gewählt. Von 1980 bis 2017 war er Mitglied des Bundestags, 2005 wurde er dessen Präsident und blieb es zwölf Jahre. Seit 2017 ist er Vorsitzend­er der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Auftreten Oft fand er Worte, wenn andere sprachlos waren. Er genoss Respekt, weil er alle Fraktionen fair behandelte und auch mal die Kanzlerin maßregelte. Seine Dialoge mit dem Linkspolit­iker Gregor Gysi sind legendär.

besser als irgendein anderes Land in der Welt wissen, dass politische Systeme sterblich sind und dass von allen politische­n Systemen die demokratis­chen Systeme die strukturel­l labilsten sind, weil sie mit dem Engagement ihrer Bürgerinne­n und Bürger stehen und fallen. Die Demokratie ist gefährdet, wenn wir sie für selbstvers­tändlich halten. Und dass wir in Deutschlan­d die Demokratie inzwischen für selbstvers­tändlich halten, ist mein sicherer Eindruck.

Überleben die Volksparte­ien? LAMMERT Wir erleben parallel zur Populismus­welle eine Erosion traditione­ller Parteiensy­steme, weil Wählerinne­n und Wähler ihr spezifisch­es Interesse bitteschön als zentrale Priorität der Politik behandelt und durchgeset­zt sehen wollen. Damit haben Volksparte­ien ein besonderes Problem, weil ihr Selbstvers­tändnis darin besteht, nicht Einzelinte­ressen zu fördern, sondern verschiede­nste Interessen auszugleic­hen. Die Democrazia Cristiana hatte in Italien einst eine ähnlich dominieren­de Rolle wie die CDU in Deutschlan­d. Sie ist in Italien beinahe rückstands­los verschwund­en. In Frankreich und Großbritan­nien liegen die Konservati­ven bei acht Prozent. Auch die CDU hat viele Mitglieder und Wähler verloren, liegt aber noch bei deutlich über 20 Prozent. Und mancher bei der SPD sagt schon, sie hätten gerne die Probleme der CDU.

Was tun?

LAMMERT Ich kann nur an die Verantwort­ung mündiger Staatsbürg­erinnen und Staatsbürg­er appelliere­n, die eigenen Prioritäte­n mit Selbstdisz­iplin einzusorti­eren und nicht die Funktion aller Verfassung­sinstituti­onen darin zu sehen, dass die eigenen Interessen vorrangig behandelt werden. Die Bürgerinne­n und Bürger haben es in der Hand.

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FOTO: DPA Norbert Lammert, hier noch als Bundestags­präsident, im Reichstags­gebäude.

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