Die erste Schule für alle
DÜSSELDORF November 1918, irgendwo in Deutschland. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, das Kaiserreich Geschichte. In einem Bahnabteil sitzt ein Matrose, er hat eine Neuigkeit, ganz aufgeregt ist er: Jetzt werde es nur noch eine Schule geben, wo alle hingehen sollen, Arm und Reich, berichtet er. Und dann werde man ja mal sehen, wo die Begabten wirklich säßen. So schildert ein Zeitgenosse die Szenerie, die tatsächlich ziemlich Revolutionäres verkündet – eine gemeinsame Grundschule für alle.
Bis zur offiziellen Gründung dauert es dann noch ein paar Wochen. Aber am 31. Juli 1919 ist es so weit. In Artikel 146 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung stehen die entscheidenden Worte: „Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf.“Diese für alle obligatorische Schule sollte helfen, Standesunterschiede zu überwinden und ein friedliches Miteinander vermitteln.
Bis dahin hing die Bildung fast ausschließlich vom sozialen Status der Eltern ab. Nur wer sich Privatunterricht zu Hause, eine dreijährige kostenpflichtige Vorschule für das Gymnasium oder eben eine Privatschule leisten konnte, hatte gute Bildungschancen. Für alle anderen blieb die kostenlose Volksschule.
Hohe Erwartungen weckte die Grundschule seinerzeit – was 100 Jahre später die Frage aufwirft, ob sie sich erfüllt haben. In ihrer Einschätzung liegen Historiker und Lehrer gar nicht so weit auseinander. Und fürchten heute um so manche bereits sicher geglaubte Errungenschaft.
Gitta Quast war 40 Jahre ihres Lebens Grundschullehrerin, die meiste Zeit in Duisburg. Schon 1996 bot ihre Schule als eine der ersten überhaupt inklusiven Unterricht an. Zusammen mit einer Sonderschullehrerin habe sie damals den gesamten Schulvormittag bestritten. „Wir waren ein Dream-Team“, sagt sie. Ideale Bedingungen seien das gewesen. „Wie es sie heute kaum mehr gibt“, meint die 67-Jährige. Aufgrund des Lehrermangels hätten die Kollegen heute hingegen höchstens stundenweise Unterstützung durch Förderschullehrer und stünden ansonsten allein vor einer Klasse mit manchmal 30 Schülern.
Dass die Klassen immer heterogener werden, ist eine der gravierendsten Veränderungen der vergangenen 30 Jahre, nicht nur wegen der Inklusion. „Die Schere ist weiter auseinandergegangen: Manche können in der ersten Klasse schon lesen, und manche kommen mit
Am 31. Juli feiert die Institution Grundschule ihren 100. Geburtstag. Die Gründung einer Schule für Kinder aller Schichten war eine kleine Revolution, die es bis heute zu verteidigen gilt, meinen Historiker und Lehrer.
nichts. Sie wissen nicht einmal, wie sie einen Stift halten oder ein Blatt einheften sollen“, sagt Wibke Poth, die seit 1998 im Schuldienst ist, aber zurzeit aussetzt, um für den Lehrerverband VBE zu arbeiten.
Die große Herausforderung für Lehrer bestehe heute darin, jedes Kind anders zu fördern: „Es ist wichtig, sehr viele individuelle Lernwege anzubieten: Das eine Kind lernt beispielsweise besser übers Handeln, das andere übers Sehen.“Ein Frontalunterricht für die gesamte Klasse, wie er von den Anfängen der Grundschule bis in die 70er Jahre hinein üblich war, wäre heute kaum mehr denkbar: „Wenn ein Lehrer heute wie vor 100 Jahren sagen würde: ‚So, jetzt holt mal eure Schiefertafeln heraus und schreibt das Wort Ei ab‘, dann würde die Hälfte der Kinder fragen: ‚Warum denn Ei? Ich möchte lieber Auto schreiben.‘“
Diese Individualität ist durchaus gewollt. Dahinter steckt ein Lernverständnis, das sich unter dem Fachbegriff „ko-konstruktivistisch“an den Grundschulen durchgesetzt hat. Freie Arbeit, forschend-entdeckender Sachunterricht und aktiver Mathematik-Unterricht hielten damit Einzug in den Unterricht. Nicht wenige Fachleute sehen diesen Ansatz aber spätestens seit dem sogenannten Pisa-Schock von 2001 wieder in Gefahr. Die seither üblichen landesweiten Vergleichstests in den Hauptfächern widersprächen dem individuellen Lernen, bemängelt der Grundschulpädagoge Horst Bartnitzky, Ehrenmitglied des Grundschulverbands. Zudem würden die Hauptfächer dadurch überbetont, die Nebenfächer marginalisiert. Und noch etwas stehe dem kindbezogenen Ansatz im Weg: fehlende Zeit. Mit 2814 Zeitstunden Unterricht lägen die deutschen Klassen 1 bis 4 deutlich unter dem Durchschnitt der Industrienationen mit 3037.
Auch Gitta Quast hat so manche Kehrtwende in der Schulpolitik erlebt: „Je mehr sich die Schulminister eingemischt haben, desto unruhiger wurde es im Kollegium.“Kontinuität tue den Grundschulen oft besser. Die Kinder hingegen, meint Quast, seien eigentlich immer dieselben geblieben: „Rabauken gab es immer.“Immer schon sei das Leistungsniveau von Klasse zu Klasse sehr unterschiedlich gewesen, auch wenn das Wissen sich stark verändert habe: „Heute wissen die Kinder sehr viel über Dinosaurier oder das Weltall, aber nicht immer ihre eigene Adresse oder den Geburtstag der Mutter.“In ihren letzten Jahren als Lehrerin habe sie aber festgestellt, dass die Konzentrationsfähigkeit der Kinder nachgelassen habe. Und noch etwas habe sich geändert: der Umgang mit den Eltern. Das kann Wibke Poth bestätigen: „Der Umgang mit den Eltern ist heute schwieriger: Früher wurden die Kinder in die Pflicht genommen, wenn sie eine Fünf nach Hause brachten, heute werden die Lehrer verantwortlich gemacht.“
Margarete Götz, emeritierte Professorin für Schulpädagogik und Schulhistorikerin, zieht eine gemischte Bilanz aus 100 Jahren Grundschul-Geschichte. Einerseits habe sich die Grundschule als eine stabile und anerkannte Institution bewährt, ihre Existenz werde nicht mehr wie in den Gründungsjahren angezweifelt. Andererseits gebe es Tendenzen, die stark an die Anfangszeit erinnern: Zu beobachten sei eine wachsende Zahl von Privatschulen, die zu erneuter sozialer und ethnischer Trennung beitrügen.
Götz‘ Fazit: „Sollte sich dieser Trend ausweiten, dann wäre zukünftig der historisch errungene Stellenwert der Grundschule als erste und einzige gemeinsame Schule für alle Kinder bedroht.“