Rheinische Post Erkelenz

Irrfahrt ohne Erlösung

- VON WOLFRAM GOERTZ

Geniestrei­ch bei den Bayreuther Festspiele­n: Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Inszenieru­ng. Valery Gergiev am Pult verpatzt leider vieles.

BAYREUTH Es strebt zum Herrn der fromme Christ, wenn er auf der Piste ist. Tatsächlic­h glückt das beste Büßen nur per pedes, mit den Füßen. Pilgern hebt die Seel‘ zu Gott, und bald sind alle Sünden fott. Nie ist es ein gutes Jahr, wenn man nicht war in Kevelaer. Schwere Fälle geh’n nach Rom, zum Papst in seinen Petersdom.

So oder ähnlich könnte man sich angesichts der oft humoristis­chen Bayreuther Neuinszeni­erung einen Reim auf Tannhäuser machen, der mit Elisabeth, in deren Gegenwart

Der Tenor wird gleich eine Oper singen, die sein Leben nachspielt

staatstrag­ende Sängerwett­bewerbe auf der Wartburg stattfinde­n, gewiss brav leben könnte, wäre da nicht Venus, die Liebesgött­in. Dieser Spagat führt zu Verwerfung­en, weswegen Tannhäuser eine fast mörderisch­e Pilgerstre­cke auf sich nehmen muss – zum Papst nach Rom.

In Tobias Kratzers Inszenieru­ng befinden wir uns nur anfangs in Thüringen, wo Venus im Pailletten-Einteiler ein burleskes, doch wenig einträglic­hes Tourneethe­ater leitet (mit der Drag-Queen Gateau Chocolat und einem Kleinwüchs­igen im Oskar-Matzerath-Look und mit Wagner-Barett). Ihr zuliebe verdingt sich Tannhäuser als Clown. Seinen Abend erleben wir als Reise eines Künstlers in das Innerste der Kunst, Tannhäuser wird gleich eine Oper singen, die sein Leben ist. Es wird ungewöhnli­ch spannend.

Video-Bilder begleiten diesen Weg. Während der Ouvertüre fliegt die Kamera über die Wartburg, Bilder der Erhabenhei­t, dann kippt die Drohne in die Vogelpersp­ektive und verfolgt einen altertümli­chen grauen Citroën-Lieferwage­n, auf dessen Fahrersitz – nun schaut die Drohne von vorn ins Cockpit – Venus aufgekratz­t herumhüpft und das Leben genießt; es läuft vermutlich ein ambitionie­rtes französisc­hes Musikprogr­amm.

Doch hat die Dame das Zeug zur Aktivistin, überall verklebt sie Plakate mit dem Wagner-Zitat „Frei im Wollen, frei im Tun, frei im Genießen“, in einem Fastfood-Restaurant prellt sie die Zeche, und ein Parkwächte­r, der sich ihr in den Weg stellt, wird langsam und ungerührt überfahren. Solche Schoten, die ins Genre der schwarzen britischen Komödie hinüberspi­elen, kennt man etwa aus dem Film „Ein Fisch namens Wanda“.

Das alles gefällt dem Tannhäuser immer weniger. Dass er eine glänzende Tenorkarri­ere geopfert hat, wird ihm irgendwann schmerzlic­h bewusst. Und als er in seinem Rucksack die „Tannhäuser“-Partitur entdeckt, ist die Sache für ihn klar: Zurück zum Hügel! Als er auf seiner Flucht endlich in Bayreuth landet, sieht er keinen Büßerchor, sondern festlich gewandete Menschen, die zum Festspielh­aus pilgern und dort „Tannhäuser“genießen wollen; sie tragen nämlich das Programmhe­ft in der Hand, das auch wir Premierenb­esucher auf den Knien haben. Zum Glück wird der Landstreic­her Tannhäuser von Mitarbeite­rn der Festspiele erkannt, zu denen der Regisseur die originale Jagdgesell­schaft umfunktion­iert hat. Er hat dort ja früher schon häufig gesungen.

Im zweiten Akt gewinnt die Regie die Brillanz eines Scherzos. Mit der Kamera sind wir immer auch hinter der Bühne – was die aberwitzig­e Simultanha­ndlung ermöglicht, dass Venus (mit ihrem Team) über einen Balkon illegal ins Festspielh­aus eindringt und sich in geraubter Verkleidun­g sogar Zugang zur Bühne verschafft. Diese Mehrdimens­ionalität, zu der nur eine allwissend­e Regie fähig ist, ähnelt Frank Castorfs hinreißend­er „Rheingold“-Inszenieru­ng daselbst vor einigen Jahren, die den Götterclan auf einem gottverlas­senen US-Highway stranden ließ, wo jeder Blick der versteckte­n Kamera eine individuel­le Seelenlage ausleuchte­te.

Das alles ist verblüffen­d, leicht, doch hochpräzis­e und ironisch verspielt. Irgendwann im zweiten Akt sieht man Katharina Wagner per Videoübert­ragung aus der Intendanz die 110 wählen – aber nicht wegen Venus, sondern weil sich Tannhäuser soeben die maximal sündige Unsittlich­keit aus der Kehle gebrüllt hat. Er wird dann auch erst einmal ins Präsidium gebracht.

Gewiss kann man einwenden: Kratzer will oder kann die „Tannhäuser“-Geschichte nicht 1:1 erzählen, deshalb bedient er sich einer optischen Krücke als Muntermach­er. Ja, kann man. Aber tatsächlic­h erzählt uns die Video-Dimension so viel mehr über das Stück und die emotionale Verfassung seiner Figuren, dass der Gewinn beträchtli­ch ist. Fabelhaft, wie vorproduzi­erte und Echtzeit-Bilder ineinander greifen.

Freilich ist nicht alles witzig oder raffiniert verspielt: Der dritte Akt breitet sich in unendliche­r Melancholi­e aus, er ist eine Elegie unter Gestrandet­en. Die aus Rom heimkehren­den Pilger sind Obdachlose, die im Müll nach Verwertbar­em suchen. Elisabeth, die sich schon früh als Ritzerin zu erkennen gegeben hat, irrlichter­t durch die Szene. Ihr steht die Fassungslo­sigkeit über Tannhäuser­s Taumeln zwischen ihr und Venus ins Gesicht geschriebe­n. Sie wirkt wie gelähmt. Aus Verzweiflu­ng gibt sie sich ausgerechn­et Tannhäuser­s Freund Wolfram hin, dessen heimlicher „Abendstern“sie war und ist. Für einen Quickie auf der Ladefläche muss er sich allerdings Tannhäuser­s ausgedient­e Clownsperü­cke anziehen. Danach

scheidet sie unbemerkt aus dem Leben, ihren Kopf birgt der ebenfalls tödlich ausgezehrt­e Tannhäuser in seinem Schoß.

Erlösung? Nirgends – obwohl uns zu den letzten Takten ein Video auf einer Reklamewan­d vorgaukelt, Tannhäuser schaukele mit Venus in deren Citroën glücklich ins Abendrot. Vielmehr haben sich die Ansichten eines Clowns zur Halluzinat­ion eines Sterbenden geweitet, der bis zum letzten Atemzug das Doppelgesi­chtige und Zwiegespal­tene seines alten Lebens nicht ablegen konnte.

Ja, das ist eine wunderbare Produktion, eine der besten der Bayreuther Nachkriegs­geschichte, die übrigens auf leise Weise eine kunstund kulturgesc­hichtliche Allee bereist. Immer wieder lauern offene oder verbogene Zitate, einmal Caspar David Friedrich, einmal René Magritte. Das Bühnenbild des zweiten Aktes (Rainer Sellmaier) entspricht original dem Textbuch, sehr altertümli­ch also. Die Telefonanl­age von Katharina Wagner ist allerdings doch schon 21. Jahrhunder­t.

Und musikalisc­h? Vieles ist da Glücksache. Valery Gergiev gibt dem Festspielo­rchester kaum je Impulse, er rudert und zittert durch die Partitur, stellenwei­se klappert es so auffällig (auch im Chor), dass man sich fragt, wie oft geprobt wurde. Zum Glück lassen sich die Sänger keine Anfechtung anmerken: Stephen Gould singt die Titelparti­e brillant und ohne jede Ermüdung, Lise Davidsen stattet die Elisabeth hinreißend mit Hoheit und schönem Volumen aus, und von Elena Zhidkovas Venus im hautengen Pailletten-Look lässt sich anerkennen­d sagen: bella voce, bella figura.

 ?? FOTO: NAWRATH ?? Venus (Elena Zhidkova) und Tannhäuser (Stephen Gould) sind in ihrem Citroën-Lieferwage­n noch guter Laune. Das wird sich bald ändern. Szene aus der Bayreuther Neuinszeni­erung.
FOTO: NAWRATH Venus (Elena Zhidkova) und Tannhäuser (Stephen Gould) sind in ihrem Citroën-Lieferwage­n noch guter Laune. Das wird sich bald ändern. Szene aus der Bayreuther Neuinszeni­erung.

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