Der Familienermutiger
Im Alter von 71 Jahren ist der einflussreiche Familientherapeut Jesper Juul in seiner Heimat Dänemark gestorben.
ODDER Er hat sich nie auf eine Seite schlagen wollen im erbitterten Kampf um die „richtigen“Erziehungsmethoden. Weder sang er das Lob der Disziplin, noch mochte er Eltern aus ihrer Führungsrolle entlassen. Erwachsene und Kinder waren für ihn nicht gleich, aber gleichwürdig. Darum sollten sie auch nicht demokratisch aushandeln, was als nächstes geschieht, sondern mit klarem Bewusstsein für ihre Rolle, einander aufrichtig begegnen. Für den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul war Erziehung eine Frage lebendiger Beziehung zwischen einfühlsamen Erwachsenen und kompetenten Kindern.
Kinder wollen gesehen, aber nicht beobachtet werden, schrieb er in seinen Büchern, sie brauchen Anteilnahme zur Ausbildung ihres Selbstgefühls, aber auch konsequente Vorgaben in einer komplizierten Welt. Juul hat Eltern ermutigt, sich durchaus als „Leitwölfe“zu verstehen, die im Familienverbund vorangehen. Doch sollten sie vor den Kindern nie eine künstliche Rolle spielen, sondern zeigen, wer sie sind. Erziehung war für Juul eben keine Machtfrage. Klare Eltern, starke Kinder, lautete einer seiner Leitsätze.
Juul war aber nie nur Ratgeber in Erziehungsfragen, sondern dachte gesellschaftliche Entwicklungen mit. Er war ja Praktiker. Im Sinne seines Lehrmeisters, des US-amerikanischen Psychiaters und Familientherapeuten Walter Kempler, hat er in Dänemark ein Beratungsinstitut gegründet, dort gearbeitet und gelehrt.
In Kroatien arbeitete er in den 1990er Jahren mit Flüchtlingen und Kriegsveteranen und gründete Anfang des Jahrtausends das Elternberatungsprojekt FamilyLab International, das inzwischen in vielen europäischen Ländern – auch in Deutschland – Niederlassungen hat.
In der Praxis erlebte Juul etwa, dass viele Kinder heute „außer sich“sind, ständig Aufmerksamkeit im Außen suchen, aber keinen Kontakt zu ihrem Inneren haben. Er war überzeugt, dass Empathievermögen nicht einfach heranwächst im Menschen, sondern geübt und gepflegt werden muss. Und dass Gesellschaften zerbröseln, wenn die Mitglieder dieser Gesellschaft zu sehr am Ego arbeiten und das Gespür für ihr Ich verlieren. Darum hat er immer wieder nach Methoden gesucht, wie Eltern gemeinsam mit ihren Kindern entspannen und ihre Körperwahrnehmung vertiefen können. Aus diesem inneren Wachstum könne Beziehungskompetenz entstehen, die Fähigkeit also, andere Menschen zu sehen und ihnen freundlich zu begegnen. Auch in der Familie.
Der systemisch denkende Juul hat als Familientherapeut wahrscheinlich deswegen so große Wirkung entfaltet, weil er das Leben kannte. 1948 im dänischen Vordingborg geboren, probierte er nach der Schulzeit viele Dinge, fuhr zur See, arbeitete auf dem Bau, als Tellerwäscher und Barkeeper. Dann erst studierte er Geschichte und Religion auf Lehramt, arbeitete als Sozialpädagoge, traf auf Therapeuten, die ihn formten, und bildete sich zum Familientherapeuten fort. Weil er selbst erlebt hatte, dass Beziehungen zerbrechen können, dass die Realität immer komplizierter ist als Ratschläge von Experten, hat er nie geurteilt über schwache Eltern und widerborstige Kinder. Er hat die Ursachen ihrer Schwierigkeiten betrachtet, hat die gesellschaftlichen Zusammenhänge gesehen und versucht, durch Ermutigung und den Appell zum immerwährenden Austausch in Familien, heilsam zu wirken.
Er selbst erkrankte 2012 an Transverser Myelitis, einer neurologischen Erkrankung des zentralen Nervensystems. Zeitweilig saß er im Rollstuhl, verlor seine Fähigkeit zu sprechen. Er beriet weiter, anfangs via E-Mail, und kämpfte sich langsam zurück. Nun ist Jesper Juul in seiner Heimat, der dänischen Kleinstadt Odder, an einer Lungenentzündung gestorben. Er wurde 71 Jahre alt. Seine Ideen und Überzeugungen leben weiter – in all den Familien, die sich von seinen Büchern und Vorträgen ermutigen ließen, ihren eigenen Weg zu gehen.