Als der Wagen nicht kam
Das war nun aber ganz schlimm. „In welchem Betrieb bist du? Was produziert ihr da? Kriegsmaterial? Welche Maschinen bedienst du?“Ein weiterer ähnlicher Katalog nach Formular gelernter Fragen übersprudelte mich. Als ich dann erklärte, ich sei Staatsbeamter, schimpfte sie: „Du Kapitalist, du Arbeiter aussaugen“. Dann ging es abwechselnd weiter mit „du Schwein, du Sau“, womit anscheinend ihr handbuchmäßiges Wissen an Schimpfwörtern erschöpft war. Der Kommandant begann inzwischen, mir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen und mit der seitlich gehaltenen Hand ins Genick. Der Major griff ein vor ihm liegendes, irgendwo geraubtes, orientalisches Krummschwert in Lederscheide und schlug damit auf mich ein, wobei immer wieder das Wort „General“ertönte. Nach einigen Schlägen auf den Kopf parierte ich mit dem rechten Arm und dem Ergebnis,
dass beide Armknochen gebrochen waren. Dann ließen sie von mir ab, und ich wurde mit etwa sechs andern Deutschen auf ein mit Koffern und Säcken beladenes Lastauto gepackt. Die Fahrt ging durch den dämmernden Abend in Richtung Westend. Der Kopf schmerzte böse und die Armknochen konnte ich knacken hören. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Hof eines großen Gebäudes, des Auguste-Viktoria-Krankenhauses, dicht hinter der Kampffront. Alles machte den Eindruck, dass wir hier liquidiert werden sollten. Pater Schluski betete die Sterbegebete. Nach einer bösen halben Stunde ging es wieder auf das Lastauto. Wir fuhren durch dunkle Straßen mit hohen Mietshäusern, also Charlottenburg. Brände lohten, es schoss in nächster Nähe. Den Russen wurde die Frontnähe ungemütlich. Sie hielten und ließen uns durch einen Torweg in einen Hof treten. Ich sackte wieder ohnmächtig hin. Allmählich hatte ich schon eine ganz gute Übung darin erreicht, mich so von den irdischen Dingen zu lösen, wenn sie zu schwierig wurden. Ich erwachte, als mich zwei Mann wie einen Sack eine Kellertreppe hinuntertrugen. In kalten Schweiß gebadet fiel ich im Keller auf den Boden und schlief trotz der schlimmen Schmerzen vor Erschöpfung ein.
1. Mai 1945: Wir erhielten Brot und Kaffee. Die russischen Soldaten waren freundlich und hilfsbereit, gaben uns auch später reichliches Essen. Ich ließ mir von den andern eine Schlinge zum Hochlegen des Armes machen, da das Herabhängen übel schmerzte und der Arm anschwoll. Aus Furcht, zur Vertuschung der Sache liquidiert zu werden, verbreitete ich die Nachricht, ich habe mir beim Absteigen von dem Lastauto den Arm gebrochen. Im Keller befand sich zwischen den Gefangenen eine zwielichtige Gestalt, die sich „Schmidt“ nannte. Ich merkte bald, dass es ein polnischer Jude war, der für die GPU arbeitete. Ihm erzählte ich meine Zusammenhänge, mit einem Augenzwinkern auch meine Version über den gebrochenen Arm, und ich fühlte, dass ich mich dem intelligenten Jungen glaubhaft gemacht hatte. Am Spätnachmittag wurde ich nach oben zum Kommandanten gebracht. Mit einem schrägen Blick auf meinen Arm fragte er durch die Dolmetscherin: „Was hast du am Arm?“Ich erzählte meine Geschichte über den Sturz vom Lastauto, die offenbar gefiel, obschon er genau wusste, wer den Arm zerschlagen hatte. „Schmidt“hatte vorgearbeitet. Er forderte mich auf, die Binde abzunehmen. Dann wurde erklärt: „Wehe, wenn du etwas erzählst, was hier war. Du kannst gehen und du nicht böse sein“.