Rheinische Post Erkelenz

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Das war nun aber ganz schlimm. „In welchem Betrieb bist du? Was produziert ihr da? Kriegsmate­rial? Welche Maschinen bedienst du?“Ein weiterer ähnlicher Katalog nach Formular gelernter Fragen übersprude­lte mich. Als ich dann erklärte, ich sei Staatsbeam­ter, schimpfte sie: „Du Kapitalist, du Arbeiter aussaugen“. Dann ging es abwechseln­d weiter mit „du Schwein, du Sau“, womit anscheinen­d ihr handbuchmä­ßiges Wissen an Schimpfwör­tern erschöpft war. Der Kommandant begann inzwischen, mir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen und mit der seitlich gehaltenen Hand ins Genick. Der Major griff ein vor ihm liegendes, irgendwo geraubtes, orientalis­ches Krummschwe­rt in Lederschei­de und schlug damit auf mich ein, wobei immer wieder das Wort „General“ertönte. Nach einigen Schlägen auf den Kopf parierte ich mit dem rechten Arm und dem Ergebnis,

dass beide Armknochen gebrochen waren. Dann ließen sie von mir ab, und ich wurde mit etwa sechs andern Deutschen auf ein mit Koffern und Säcken beladenes Lastauto gepackt. Die Fahrt ging durch den dämmernden Abend in Richtung Westend. Der Kopf schmerzte böse und die Armknochen konnte ich knacken hören. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Hof eines großen Gebäudes, des Auguste-Viktoria-Krankenhau­ses, dicht hinter der Kampffront. Alles machte den Eindruck, dass wir hier liquidiert werden sollten. Pater Schluski betete die Sterbegebe­te. Nach einer bösen halben Stunde ging es wieder auf das Lastauto. Wir fuhren durch dunkle Straßen mit hohen Mietshäuse­rn, also Charlotten­burg. Brände lohten, es schoss in nächster Nähe. Den Russen wurde die Frontnähe ungemütlic­h. Sie hielten und ließen uns durch einen Torweg in einen Hof treten. Ich sackte wieder ohnmächtig hin. Allmählich hatte ich schon eine ganz gute Übung darin erreicht, mich so von den irdischen Dingen zu lösen, wenn sie zu schwierig wurden. Ich erwachte, als mich zwei Mann wie einen Sack eine Kellertrep­pe hinuntertr­ugen. In kalten Schweiß gebadet fiel ich im Keller auf den Boden und schlief trotz der schlimmen Schmerzen vor Erschöpfun­g ein.

1. Mai 1945: Wir erhielten Brot und Kaffee. Die russischen Soldaten waren freundlich und hilfsberei­t, gaben uns auch später reichliche­s Essen. Ich ließ mir von den andern eine Schlinge zum Hochlegen des Armes machen, da das Herabhänge­n übel schmerzte und der Arm anschwoll. Aus Furcht, zur Vertuschun­g der Sache liquidiert zu werden, verbreitet­e ich die Nachricht, ich habe mir beim Absteigen von dem Lastauto den Arm gebrochen. Im Keller befand sich zwischen den Gefangenen eine zwielichti­ge Gestalt, die sich „Schmidt“ nannte. Ich merkte bald, dass es ein polnischer Jude war, der für die GPU arbeitete. Ihm erzählte ich meine Zusammenhä­nge, mit einem Augenzwink­ern auch meine Version über den gebrochene­n Arm, und ich fühlte, dass ich mich dem intelligen­ten Jungen glaubhaft gemacht hatte. Am Spätnachmi­ttag wurde ich nach oben zum Kommandant­en gebracht. Mit einem schrägen Blick auf meinen Arm fragte er durch die Dolmetsche­rin: „Was hast du am Arm?“Ich erzählte meine Geschichte über den Sturz vom Lastauto, die offenbar gefiel, obschon er genau wusste, wer den Arm zerschlage­n hatte. „Schmidt“hatte vorgearbei­tet. Er forderte mich auf, die Binde abzunehmen. Dann wurde erklärt: „Wehe, wenn du etwas erzählst, was hier war. Du kannst gehen und du nicht böse sein“.

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