Im Tal der Steinzeitmenschen
Das Neanderthal Museum vermittelt Menschheitsgeschichte für Kinder und Erwachsene. Im umliegenden Neandertal kann man die Fundstelle des Steinzeitmenschen besuchen, wandern und Rad fahren.
METTMANN „Lucy“guckt einem frech ins Gesicht, die Lippen hat sie aufeinander gepresst, die Arme in die Taille gestützt. Sie sieht eher aus wie ein Affe, steht aber auf zwei Beinen. Sie ist eine Art „Vormensch“, denn sie gehörte noch nicht zur Gattung Homo. Ihre Knochen wurden 1970 in Äthiopien entdeckt. Wer dem Audiotext lauscht, erfährt, dass sie 25 Jahre alt, 105 Zentimeter groß ist und „Die Wunderbare“genannt wird. Im Neanderthal Museum begegnet einem „Lucy“als plastische Figur mit täuschend echter Haut- und Haarstruktur. Sie ist Teil des neu gestalteten „Stammbuschs“, einer Installation mit sechs sogenannten Homininen der niederländischen Bildhauer Adrie und Alfons Kennis.
Die sechs anhand von Knochenfunden rekonstruierten Vorfahren des Menschen stehen in einer Holzkonstruktion aus 300 Dreiecken, die anhand von Zahlen und verschiedenen Schädeln die Evolution nachvollziehen lassen. Alle Figuren erzählen in Audiotexten ihre Geschichte, lebendig und anschaulich. Der „Stammbusch“ist Teil der 2016 neu gestalteten Kapitel der beeindruckenden Dauerausstellung des Neanderthal Museums. „Wir reagieren auf die Forschung und wollen aktuell bleiben“, sagt Melanie Wunsch, die für das Ausstellungsmanagement zuständig ist.
Dass das Museum die Ausstellung überarbeitet, heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass es mehr digitale Medien einsetzt. Im Gegenteil: In vielen Bereichen ist das Museum angenehm analog – und auch zum Anfassen geeignet. Eine neue Station erzählt in Miniaturnachbildungen die Geschichte eines Knochenfundes und der darauf folgenden Analyse in verschiedenen Laboren, die wie Teile einer kleinen Puppenstube nachgebaut sind. Hier bekommt man veranschaulicht, wie die Arbeit von Archäologen, Anthropologen oder Paläogenetikern aussieht. „Mit Tablets wären die Schulklassen abgelenkt“, sagt Melanie Wunsch. Ein Großteil der 160.000 Besucher pro Jahr sind Kinder und Jugendliche.
Neu am Ende des spiralförmigen Rundgangs durch die Menschheitsgeschichte ist eine Filminstallation des Künstlers Horst Wackerbarth: Menschen aus der ganzen Welt geben in dem Film Auskunft dazu, was ihnen etwa Glück bedeutet. „Das Projekt zeigt: Wir sind alle Teil der Menschenfamilie“, erklärt die Ausstellungsmanagerin.
Nicht versäumen sollte man den Besuch der etwa 400 Meter vom Museum entfernt liegenden Fundstelle. Schon allein der Weg entlang des Düsselufers lohnt sich. Der zehn Meter hohe Rabenstein am Eingang vermittelt einen Eindruck davon, wie das Neandertal einmal aussah: eine tiefe Felsschlucht, durch die die Düssel floss. Heute findet sich hier ein sanftes Tal, keine Spur mehr von den einstigen Höhlen. Dabei überdauerten gerade in diesen Überreste des Neandertalers im Lehm mehr als 40.000 Jahre lang.
Wild-romantisch war das Neandertal, bevor der Kalkabbau die Landschaft für immer veränderte. Früher nannte man das Tal Hundsklipp oder nur Gesteins. Es lockte schon damals Touristen an. Auch Künstler der Düsseldorfer Malerschule pilgerten in das nahe Tal, um dort zu malen und in den Höhlen zu feiern. Ihnen verdankt man eindrucksvolle Ansichten der damaligen Landschaft. Für Wanderer war die 50 Meter tiefe und etwa 1000 Meter lange Schlucht eine Herausforderung Der Kalksteinabbau zerstörte im 19. Jahrhundert das Tal, die Felsen wurden gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht.
Die Feldhofer Grotte war eine dieser Höhlen, die auf etwa 20 Meter Höhe in einer Felswand über der Düssel einen sensationellen Fund barg: Knochenreste eines fossilen Menschen. Zufällig wurden sie 1856 von Steinbrucharbeitern entdeckt. „Ein Riesenglück“, nennt das heute Bärbel Auffermann, Archäologin und Leiterin des Neanderthal Museums. Achtlos warfen die Arbeiter die Knochen zunächst weg. Erst als ein Schädelfragment zutage kam, verständigten die Besitzer des Steinbruchs den befreundeten Johann Carl Fuhlrott aus dem nahen Elberfeld. Der Lehrer und Naturforscher erkannte sofort die Reste eines Urzeitmenschen – und wurde dafür angefeindet. „Es war eine Zeit des totalen Umbruchs des Gedankenguts“, erklärt Auffermann. „Vorher war der Mensch Gottes Schöpfung.“
Mit seiner Entdeckung belegte Fuhlrott indirekt auch Charles Darwins Evolutionstheorie, die 1859 für Aufruhr sorgte. Doch Fuhlrotts These wurde von vielen Wissenschaftlern abgelehnt. „Dabei war er seiner Zeit voraus“, sagt Auffermann. Bis zu seinem Tod 1877 bekam Fuhlrott jedoch keine Anerkennung für seine Entdeckung. Ende des 19. Jahrhunderts waren die letzten Felsen des Neandertals längst gesprengt, und Höhle und Fundort galten somit als verloren.
Erst bei erneuten Ausgrabungen in den Jahren 1997 und 2000 fanden Wissenschaftler Sedimente der ehemaligen Höhle. Und tatsächlich entdeckten sie darin weitere Knochen desselben Neandertalers und vieler weiterer Urzeitmenschen sowie Steinwerkzeugteile – ein spektakulärer Fund. Während die Knochen von 1856 heute im Rheinischen Landesmuseum in Bonn ausgestellt sind, zeigt das Neanderthal Museum diese neueren Entdeckungen selbst.
Rot-weiße Stangen markieren die Stelle, an der man zuletzt Knochenteile fand. Als „architektonische Erinnerungslandschaft“präsentiert sich die Fundstelle. Eine Zeitachse mit kulturellen Meilensteinen symbolisiert 2,5 Millionen Jahre Geschichte der Gattung Homo. Hier kann man sich auf Steinliegen niederlassen und überlegen, wie die Landschaft früher einmal aussah, als der Neanderthaler hier auf die Jagd nach Mammuts ging und Pflanzen und Beeren sammelte. Demnächst soll die Fundstelle umgestaltet und somit wieder attraktiver werden. Auch vor dem Museum finden derzeit Umbauarbeiten statt. Hier entstehen bis 2020 ein neuer Parkplatz, ein Steinzeit-Abenteuer-Spielplatz sowie eine neue Brücke über die Düssel.
Wie die Dinosaurier würden die Neandertaler heutige Menschen faszinieren, sagt Auffermann. Viele der Besucher lassen sich mit dem Neandertalermann, „Mr. N.“genannt, in der Ausstellung fotografieren. Er ist das Gesicht des Museums. Sein Konterfei ziert Buttons und Postkarten. Er wirkt etwas gedrungen mit seinen kräftigen Knochen, dem muskulösen Körper und dem ausgeprägten Überaugenbogen. „Wir haben etwa vier Prozent Neandertalergene in uns“, erklärt die Museumsdirektorin. Der Neandertaler war zwar gut gerüstet für das Leben – überlebt hat er nicht. Durch starke Klimaschwankungen starb er vor 40.000 Jahren aus.