Die Angst vor dem Beben
20 Jahre nach der Katastrophe von Gölcük fürchtet die Türkei ein erneutes Erdbeben – in Istanbul.
GÖLCÜK Palmen säumen die Uferpromenade von Gölcük, auf dem Wasser schaukeln Ruderboote in der Brise. Auf dem Spielplatz toben Kinder aus den Wohnhäusern am Ufer, die wegen ihres Meerblicks auf den Golf von Izmit begehrt sind. In einem solchen Haus starb vor 20 Jahren sein Bruder mit Frau und Kindern, erzählt der Tabakhändler Osman Özkan: Der Wohnblock stürzte beim Erdbeben ein und wurde vom Meer verschluckt. Neun Tage dauerte es, bis Hilfstrupps mit Baggern die Trümmer so weit abgeräumt hatten, dass Özkan die Leichen seiner Angehörigen aus dem Wasser ziehen konnte.
In den frühen Morgenstunden des 17. August 1999 schwankte im ganzen Nordwesten der Türkei die Erde. Das Beben hatte die Stärke 7,4; das Epizentrum lag ein paar Kilometer außerhalb von Gölcük. Innerhalb weniger Minuten starben mindestens 17.000 Menschen. Fast 300.000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört, eine halbe Million Menschen wurden obdachlos.
Rettungsteams aus der ganzen Welt rückten damals in Gölcük an, während die Hilfe des türkischen Staates zunächst völlig versagte. Die Rettungsmannschaften zogen Verletzte und Tote aus den Haustrümmern und arbeiteten unter Lebensgefahr, denn die Gegend wurde noch lange von teils schweren Nachbeben erschüttert.
Auch heute ist die Gefahr eines neuen Bebens allgegenwärtig. Gölcük liegt an der sogenannten Nordanatolischen Verwerfungslinie, an der sich die nach Westen strebende Anatolische Platte an der Eurasischen Platte reibt. Immer wenn sich an dieser Trennlinie genügend Druck aufbaut, bebt die Erde – doch trotz aller moderner Messmethoden kann die Wissenschaft nicht voraussagen, wo und wann es so weit sein wird. Dass es an der Linie seit Menschengedenken immer wieder kracht und auch weiter krachen wird, ist dagegen sicher. Vor rund 80 Jahren starben bei einem Erdbeben an der Nordanatolischen Linie im osttürkischen Erzincan mehr als 30.000 Menschen.
Dass Gölcük erst einmal sicher ist, kann Haluk Özener jedenfalls nicht bestätigen – dass Istanbul in Gefahr ist, dagegen schon. Der Leiter des Erdbeben-Forschungszentrums Kandilli an der Istanbuler Bosporus-Universität überwacht mit seinem Team die Nordatlantische Verwerfungslinie, die eine ihrer Verästelungen unter dem Marmarameer in Richtung Istanbul streckt. Die Daten sprechen eine eindeutige Sprache, wie Özener der Zeitung „Hürriyet“sagte. „Es gibt Verwerfungslinien, es gibt Bewegung, es gibt die Erdbeben der Vergangenheit, es gibt Energie, die sich aufbaut – und die irgendwann rauskommt.“Vielleicht wieder in Gölcük. Vielleicht aber auch in Istanbul. „Ich hoffe, das Beben wartet, bis wir bereit sind“, sagte Özener.
Bisher ist das nicht der Fall. Das türkische Katastrophenamt AFAD schätzt, dass ein schweres Beben an der Verwerfungslinie südlich von Istanbul rund 30.000 Menschen in der Stadt töten und 150.000 weitere obdachlos machen würde. Je nach Stärke und Ort des Bebens könnte zudem ein Tsunami durch die Uferbereiche von Istanbul am Marmarameer und am Bosporus rollen. Dennoch lebt die Stadt so, als gäbe es keine Gefahr. Straßen, die als Rettungswege für Feuerwehr und Krankenwagen gekennzeichnet sind, werden häufig von parkenden Autos blockiert.
Der wichtigste Grund für das Katastrophenszenario ist jedoch der weit verbreitete Pfusch am Bau in der Metropole. Die Istanbuler Bauingenieurskammer hat errechnet, dass zwei von drei Bewohnern der Stadt am Bosporus in einem Gebäude wohnen, das nicht den Vorschriften entspricht. Nach Angaben des ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim müssten bis zu 50.000 Gebäude in Istanbul dringend erdbebenfest gemacht werden. Wie sich hinterher herausstellte, hatten die Besitzer illegal drei zusätzliche Stockwerke auf ihre bis nur fünf Stockwerke genehmigten Häuser gesetzt, um mehr Geld zu verdienen. Der Staat segnete die fatale Erweiterung im Rahmen einer Amnestie ab, bei der sich Bausünder von Strafen freikaufen konnten.