Gestrandet in Bochum
Immer mehr Menschen gelangen über die polnisch-belarussische Grenze in die EU. Wer als Geflüchteter nach NordrheinWestfalen kommt, muss sich zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes registrieren lassen. Ein Besuch vor Ort.
BOCHUM Ines Stadler führt über das Grundstück der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA); vorbei an Containern, Backsteingebäuden und einer Leichtbauhalle. Erst wenige Monate leitet die 35-Jährige die Einrichtung. Doch vor einer Herausforderung steht sie schon jetzt: Möglicherweise kommen bald viele Menschen zu ihr nach Bochum, die über die polnische Grenze nach Deutschland fliehen.
Denn die Lage an der polnischbelarussischen Grenze spitzt sich zu. Am Montag hatten nach Angaben polnischer Behörden größere Gruppen von Migranten auf der belarussischen Seite in der Nähe des mittlerweile geschlossenen Grenzübergangs Kuznica vergeblich versucht, die Zaunanlage zu durchbrechen. Laut polnischen Behörden hielten sich zwischen 3000 und 4000 Migranten im Grenzgebiet auf. Die Regierung in Warschau und die EU werfen dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, gezielt Menschen aus Krisenregionen wie Afghanistan und dem Irak einfliegen zu lassen, um sie dann in die EU zu schleusen. Geflüchtete, die es in den Westen schaffen, landen in Erstaufnahmestellen – zum Beispiel in Bochum. Diskussionen über die Ausrichtung der Migrationspolitik der EU interessieren dort eher weniger.
„Der Berufsalltag ist hier deutlich praktischer“, sagt Ines Stadler. Bei ihrer Arbeit, sagt sie, gehe es um andere Dinge als um Debatten rund um Zäune, Abschottung und Solidarität. Darum, wie sie die Wartezeit der Geflüchteten, die hier in Behördensprache „Antragssteller“genannt werden, verkürzen kann. Oder wie sich die „Verweildauer“auf dem Gelände „irgendwie erträglicher“gestalten lässt.
Seit rund vier Jahren ist die Behörde in Betrieb. Das Land wollte mit der Einrichtung die Aufnahme von Geflüchteten neu organisieren. Wer nach NRW kommt, muss sich als Erstes dort melden. In ihrer ersten Woche im Juli als Leiterin, erinnert sich Stadler, seien rund 450 Geflüchtete gekommen. Jetzt seien es pro Woche mehr als doppelt so viele. Von Januar bis Ende Oktober hätten sich rund 22.130 Menschen registrieren lassen; davon rund 13.000 in den vergangenen vier Monaten und rund 3900 im Oktober. Es sind Zahlen, die nicht im Ansatz vergleichbar sind mit denen aus NRW im Jahr 2015. Dennoch musste Stadler die Anzahl der Mitarbeitenden aufstocken. 48 Menschen arbeiten jetzt dort – darunter 15 Kräfte für die Registrierung der Geflüchteten, die über eine Zeitarbeitsfirma eingestellt werden, je nachdem, wie viele Menschen gerade ankommen.
Es seien jetzt auch öfter Menschen dabei, die das erste Mal im Osten von Deutschland aufgegriffen wurden. Das könne sie im Ausländerzentralregister sehen, sagt Stadler. Wie viele genau bisher über Belarus in die Einrichtung gekommen sind, wisse sie aber nicht. Die Route, die jemand genommen habe, sei für die Registrierung in der LEA nicht wichtig.
Schon seit Wochen kommen besonders viele Menschen über die Grenze zu Polen nach Deutschland. Im Konflikt mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko ist derzeit keine Entspannung in Sicht, im Gegenteil. Die polnische Regierung hat längst zu Militär und Stacheldraht gegriffen. Auch Menschen, die es über die polnische Grenze geschafft haben, sollen zurück gebracht und dort ausgesetzt worden sein. Wem die Einreise nach Polen trotz allem gelingt, macht sich oft weiter auf den Weg Richtung Westen. Manchmal bis nach Bochum.
In diesem Fall passiert, was hier immer passiert, wenn jemand an der Pforte steht und sich bei den Sicherheitsleuten meldet. Es geht vorbei an dem Spielplatz aus Stahl. Hinein in das Gebäude zum Corona-Schnelltest und zum PCR-Test und, falls nötig, in das Vorzimmer mit den medizinischen Fachkräften. Wer negativ getestet wurde und keinen Arzt braucht, wird zu einer ersten Selbstauskunft – Fieber? Husten? Juckreiz? – weiter in eine Leichtbauhalle geleitet. Der Weg führt für Fingerabdrücke und Fotos in das nächste Gebäude. Und schließlich in den Warteraum für den Bus. Mit Stuhlreihen wie in der Abflughalle eines Flughafens, Fünf-Minuten-Terrinen und einem Eisenbahnteppich für Kinder.
Die Mitarbeitenden geben währenddessen die persönlichen Angaben in ein Computersystem ein. Es wird geklärt, ob es schon Daten gibt zu einer Person, und welchem Bundesland sie zugeteilt wird, nach einem Verfahren, dass sich „Easy“nennt und für Erstverteilung von Asylbewerbern steht.
In der LEA bleibt jedenfalls niemand lange. Nach ein paar Stunden bringen Shuttlebusse die Ankommenden in eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE), wo sie den Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellen können. Rund eine Woche später geht es in eine Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE). Von der LEA in die EAE in die ZUE. Ein System in drei Stufen. Und alles beginnt mit dem Funksignal der
Sicherheitsleute am Eingang. Wobei das nicht ganz stimmt. Auf jeden Fall nicht für das Mädchen, das gerade in einem der Räume mit dem Kopf auf der Stuhllehne neben ihrer Mutter sitzt und schläft. Auch nicht für den Mann, der vor eineinhalb Monaten mit seiner schwangeren Frau und seinem Kleinkind aus Mazedonien gekommen ist und jetzt in der Leichtbauhalle den Fragebogen ausfüllt. Oder den Syrer, der sagt, dass er schon vor zehn Jahren nach Katar geflohen sei, wo man ihm nun gedroht habe, ihn zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern wieder zurückzuschicken. Für sie und die anderen Menschen, die sich an diesem Tag in Bochum registrieren lassen, hat alles viel früher begonnen. Für sie ist die LEA auf ihrem Weg nur eine von vielen Stationen.